Dienstjubiläum

Vier Apothekerjahrzehnte in Ost und West Torsten Bless, 31.12.2017 09:24 Uhr

Berlin - 

Stolze 40 Jahre leitet Dr. Gerd-Gunther Madry die Geschicke der Teich-Apotheke in Merseburg. Der passionierte Hobbymaler hat die Pharmaziewelten in Ost und West miterlebt und schreibt seinen Kollegen deutliche Worte ins Stammbuch.

Eigentlich wollte Dr. Gerd-Gunther Madry Kunst studieren. Doch sein Vater drängte ihn, etwas Ordentliches zu lernen. Madry entschied sich für die Pharmazie, doch der Weg dahin war mit Steinen gepflastert. „Es gab nur 26 Studienplätze, aber über 200 Bewerber“, erzählt Madry. „Bei der Vergabe der Studienplätze wurden vor allem Kinder von Arbeitern und Bauern bevorzugt. Da reichte es auch nicht, die Aufnahmeprüfung mit einer 2 zu bestehen.“

Madry machte aus der Not eine Tugend. „Ein Jahr lang arbeitete ich im Drei-Schicht-System in der Produktionsanlage des Serumwerks in Bernburg an der Saale“, erinnert er sich. „Das Werk stellte Blutserum her, dass nach einem Unfall vier bis sechs Stunden bis zu einer Bluttransfusion im Krankenhaus überbrücken konnte. So lernte ich die pharmazeutische Industrie kennen.“

Als es noch immer nicht mit dem Studium klappen wollte, hängte er in Naumburg eine einjährige Ausbildung zum Apothekenfacharbeiter dran. „Das Berufsbild ist fast identisch mit einer PTA.“ Der Ochsentour gewann er durchaus positive Seiten ab: „Ich kannte mich danach schon gut in der Apotheke aus.“ Und die Verantwortlichen konnten die Universität nicht mehr verwehren.

Schon bei den Aufnahmeprüfungen lernte er seine spätere Frau Ingrid kennen. Beide studierten von 1965 bis 1970 in Halle und absolvierten ihre erste berufliche Station in Aken an der Elbe. 1977 erfuhr Maudry von einer freien Stelle als Leiter der Teich-Apotheke in Merseburg. „Darauf habe ich mich ganz normal beworben.“ Beinahe alle Apotheken waren in der DDR in staatlicher Hand. „Die privaten Apotheken ließen sich an einer Hand abzählen.“ Doch auch die volkseigenen Betriebe konnten von Apotheker-Söhnen oder -Töchtern übernommen werden.

Vieles unterschied sich von der Situation im vereinigten Deutschland heute. „In der DDR gab es etwa 1700 Arzneimittel. Heute sind es natürlich etliche mehr“, erinnert sich Madry. „Wie in allen Branchen kam es auch hier zu Engpässen. Wir führten viel mehr Medikamente aus Ungarn oder Rumänien ein. Hier fehlten allerdings mitunter Grundsubstanzen.“ Dann sei improvisiert und etwas anderes verschrieben worden. Auch der Notdienst sei seinem Namen noch gerecht geworden: „Damals wurden nur Medikamente auf Rezept abgegeben. Dass jemand um halb drei wegen Nasentropfen klingelte, gab es nicht.“

Mit der Vereinigung 1990 verschwand der Staat und damit auch der Besitzer der Teich-Apotheke. Der Betrieb war auf einmal herrenlos. Madry wollte bleiben wo er war. „Meine Übernahmeverhandlungen mit der Treuhand dauerten sehr lange“, berichtet er. Dass der Pharmazeut die Geschicke schon fast anderthalb Jahrzehnte gelenkt hatte, verschaffte ihm keinen Rabatt. „Der Kaufpreis war völlig überzogen. Auch als ich 1993 umbaute, musste ich hohe Kredite aufnehmen und habe lange Zeit fast nichts verdient.“

Über seine wirtschaftliche Situation heute mag Madry nicht viel verraten. Doch das Apothekensterben macht ihm schon Sorgen. Mitschuldig ist seiner Meinung nach eine vermeintliche Errungenschaft der Kollegen aus dem Westen. „Apotheken sind in der DDR nur eröffnet worden, wenn sie wirklich benötigt wurden.“ Auch in der alten Bundesrepublik habe es bis Ende der 1950er Jahre noch einen Schlüssel gegeben, der festlegt habe, wie viele Apotheken es in einer Stadt geben dürfe. „Doch die Apotheker wollten ein freier Berufsstand sein und haben darauf gedrungen, die Reglementierung abzuschaffen.“

Nach der Wiedervereinigung und der Übernahme der Niederlassungsfreiheit in den neuen Bundesländern sei auch in Merseburg die Zahl der Apotheken sprunghaft gewachsen. „Früher hatten wir vier, jetzt sind es über 14. An dem Apothekensterben sind wir quasi selbst mit schuld, wir haben uns den Ast abgesägt. Der Feind steht immer in den eigenen Reihen.“

Wie andere Kollegen hat auch Madry mit Personalknappheit zu kämpfen. Er wäre froh über ein wenig approbierte Verstärkung. „Doch viele Pharmazeuten gehen nach ihrem Studium mittlerweile in die Industrie, weil sie dort besser bezahlt werden und regelmäßige Arbeitszeiten haben.“ Den Nachtdienst übernehme er selbst, um seine Mitarbeiter zu entlasten. Auf sein Team könne er sich verlassen. „Fast alle arbeiten sehr lange bei mir, einige sind schon 25 Jahre dabei. Eine Fluktuation gibt es nur, wenn Mitarbeiter aus Merseburg wegziehen müssen.“

Seiner Liebe für die Kunst blieb Madry treu, zumindest zum Teil konnte er seine alten Träume realisieren. „Wir sind die einzige Apotheke mit einer eigenen Galerie“, erzählt er. Sie stellt ausschließlich eigene Werke aus. Eine Staffelei hinter dem HV-Tisch zeigt alle ein bis zwei Monate ein neues Bild. Doch Madrys Output ist viel größer. Jeden Freitag nach Geschäftsschluss zieht er sich mit seiner Palette zurück. „Dann entsteht auch erst im Kopf, was ich malen werde. Die Hälfte der Bilder ist politisch geprägt, die andere zeigt Landschaften.“

Seine Werke finden Anklang: „In 170 Galerien habe ich schon ausgestellt, auch bei der Internationalen Kunstmesse in Basel und 2016 bei der Art Innsbruck.“ Kaufangebote schlug er aus, von keinem seiner Bilder mochte er sich bislang trennen. Wer Madrys Kunst in die eigenen vier Wände holen will, kann auf „Malerische Impressionen“ in Kalenderform zurückgreifen. Derzeit aktuell ist eine Dreijahresausgabe, die noch bis Dezember 2019 gilt. Der Erlös kommt der José-Carreras-Stiftung zugute.

Ans Aufhören denkt der heute 72-Jährige nicht. „Ich fühle mich wie 39 und arbeite so lange, wie mir der Beruf Freude macht“, betont er. Beide Söhne hat es in die Naturwissenschaften verschlagen. Der eine lehrt nach einem Medizinstudium jetzt als Professor für Experimentelle Orthopädie und Arthroseforschung an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken. Der andere studierte Pharmazie wie der Vater, ging aber in die Forschung. Nach einer Karrierestation an der UCL London‘s Global University arbeitet er seit einem guten Monat an der Berliner Charité. „Es kann sein, dass er in ein paar Jahren als Wissenschaftler noch einmal außer Landes geht“, erzählt Madry. Möglicherweise wolle er aber auch in ein paar Jahren nach Merseburg zurückkehren. „Dann ist er vielleicht ganz froh, dass sein Vater die Apotheke noch hat.“

Drängen will er seinen Filius aber nicht. Überhaupt hat Madry für Apotheker, die ihre Kinder zur Nachfolge zwingen, nicht viel übrig. „Der Sohn eines Kollegen war eigentlich Optiker und musste noch ein Pharmaziestudium dranhängen. Solche Apotheker üben den Beruf nur zum Geldverdienen aus, er ist für sie keine Berufung.“