„Aktion Mütze“

Pausenbrot statt Kopfschmerztabletten dpa, 02.01.2018 14:45 Uhr

Tabletten gegen Kopfweh gehören für viele Jugendliche zum Alltag. Die „Aktion Mütze“ will das ändern und geht direkt in die Schulen. Ihr Ansatz: Wissen hilft gegen Schmerzen. Foto: Alexandra H./pixelio.de
Wiesbaden - 

Schüler fragen ihre Lehrer immer häufiger nach Kopfschmerztabletten: Diese Beobachtung hat die ehemalige Wiesbadener Gesamtschullehrerin Karin Frisch alarmiert. Um den aus ihrer Sicht „gravierenden Anstieg von Kopfschmerzerkrankungen bei Kindern und Jugendlichen entgegenzuwirken“, rief sie zusammen mit dem Direktor der Schmerzklinik Kiel, Professor Dr. Hartmut Göbel, vor rund drei Jahren die „Aktion Mütze – Kindheit ohne Kopfzerbrechen“ ins Leben. Der Neurologe und Psychologe Göbel ist überzeugt: „Kopfschmerzen kann man durch Wissen verhindern. Wissen ist die beste Medizin, die beste Prävention.“

Mehrere Studien zeigten, dass Kopfschmerzen im Kinder- und Jugendalter tendenziell zunähmen, berichtete der Generalsekretär der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft, Dr. Charly Gaul. Als Gründe würden unter anderem Multitasking und zu wenig verfügbare Freizeit genannt. „Streit im Freundeskreis ist auch ein Risikofaktor, alles was in Richtung Mobbing geht.“

Kopfschmerzen seien die Volkserkrankung schlechthin, sagt Göbel. Viele Menschen wüssten jedoch nicht, wie sie Kopfschmerzen oder Migräne vorbeugen könnten. „Viele Kinder werden schon wie selbstverständlich mit Kopfschmerztabletten in die Schule geschickt, das gehört dazu wie das Pausenbrot.“

Für die „Aktion Mütze“ haben Göbel und Frisch eine Unterrichtseinheit entwickelt, die Lehrer, Schüler und deren Eltern gleichermaßen erreichen soll. Ziel ist es, sie umfassend zu informieren, für die Risiken eines unreflektierten Medikamentengebrauchs zu sensibilisieren, Kopfschmerzen vorzubeugen – und die Ursachen anzugehen. Die Unterrichtseinheit können alle siebten Klassen in Deutschland kostenfrei bekommen, wie Frisch sagt. Das Projekt werde zudem mit einer umfassenden wissenschaftlichen Befragung evaluiert. „Mehr als 70 000 Schüler haben inzwischen mit den Unterlagen gearbeitet.“

„Das Konzept, wir gehen in Schulen und machen was, ist prinzipiell richtig“, sagt Gaul, der auch Neurologe an der Migräne- und
Kopfschmerzklinik in Königstein im Taunus ist. „Informationsvermittlung alleine ist wirksam.“ Dies zeige die Münchner Untersuchung zu Kopfschmerzen bei Gymnasiasten (Mukis), bei der mehr als 1000 Gymnasiasten mitgemacht haben. Schon eine einstündige Schulstunde über die Risikofaktoren von Kopfschmerzen und Migräne habe danach einen messbaren Effekt auf die Schüler.

Als Risikofaktoren machten die Initiatoren von Mukis nach den Worten Gauls Rauchen, Alkoholkonsum, koffeinhaltige Getränke, körperliche Inaktivität, Stress und Muskelanspannungen im Schulter-Nackenbereich aus.

Und welche Rolle spielen regelmäßiges Trinken und Essen? „Einzelne können davon gut profitieren“, sagt Gaul. „Es gibt aber keinen einzelnen Mechanismus, der die ganze Migräne erklärt.“ Wichtig sei: „Ich muss wissen, was ich habe, wo ich hin kann, wenn es schlimmer geht, dass zu viele Tabletten den Kopfschmerz vermehren, und dass regelmäßige körperliche Aktivität hilft.“

Schmerztherapeut Göbel hält Ernährung für einen entscheidenden Ansatzpunkt. „Das kindliche Nervensystem braucht Kohlenhydrate.“ Damit seien aber nicht Süßigkeiten gemeint, sondern Kartoffeln, Reis, Vollkorn oder Nudeln. Ein Frühstück, ein Pausenbrot und ein festes Mittagessen vor 13 Uhr hält er für wichtig. Regelmäßiges Trinken dürfe auch nicht vergessen werden. „Es gibt immer noch Schulen, wo das verboten ist.“ Das Abendessen solle auch nicht ausfallen, weil es verhindern könne, dass Kinder morgens aus dem Schlaf mit Kopfweh aufwachten.

„Alles zu Schnelle, alles zu Viele, alles zu Plötzliche, alles zu Intensive kann Migräne-Attacken auslösen“, mahnt Göbel. Daher sei Regelmäßigkeit im Alltag wichtig. „Kinder sollten einen gleichmäßigen Tagesablauf haben.“

Außerdem sollten sie zumindest eine halbe Stunde am Tag mal nichts tun: „Handy weglegen, Hinsetzen, zur Ruhe kommen, Träumen und an gar nichts denken“, rät er. „Wenn man das Kindern erklärt, verstehen sie das ganz gut.“

Frische Luft, Sport und ein Spaziergang seien auch hilfreich. „Viele kommen aber gar nicht mehr dazu, weil sie schon wieder hinter den Büchern am Schreibtisch sitzen müssen.“ Dazu komme der Medienkonsum, der den Tag schnell verrinnen lasse, weil sich das kindliche Gehirn kaum lösen könne von den wechselnden Reizen. „Das Nervensystem ist ständig in high action. Das belastet natürlich sehr.“ Hilfreich sei zudem, Entspannungsverfahren zu lernen.

Erste Ergebnisse der „Aktion Mütze“ geben den Initiatoren Recht: Am Ende der Erprobungsphase des Projekts hätten mehr als zwei Drittel der befragten Schüler mit Kopfweh angegeben, dass sich ihr Kopfschmerz infolge der Verhaltensumstellung verbessert habe und sie die Unterrichtsmappe immer wieder zurate zögen, sagt Frisch.

Christian Diel von der R+V-Versicherung in Wiesbaden, die das Projekt von Anfang an unterstützt hat, stellt fest: „Das Thema Kopfschmerz bei Jugendlichen ist stiefmütterlich behandelt worden.“