Professor Dr. Throsten Lehr

Covid-Simulator: Der Apotheker, der die Politik berät

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Berlin -

Die Covid-19-Pandemie ist die Stunde der Virologen und Epidemiologen, heißt es. Ihnen kommt vor allem bei der Beratung der Politik eine entscheidende Rolle zu – insbesondere, wenn es darum geht, Prognosen zu erstellen, wie sich die Pandemie weiterentwickelt und welche Maßnahmen wie wirken. Einer der wichtigsten Beiträge dazu stammt allerdings von einem Apotheker: Dr. Thorsten Lehr, Professor für Klinische Pharmazie der Universität des Saarlandes, hat einen „Covid-Simulator“ entwickelt, der es dank verbesserter Datengrundlage ermöglicht, bis auf die regionale Ebene den weiteren Verlauf der Pandemie unter bestimmten Prämissen zu prognostizieren. Damit macht er seine Arbeit attraktiv für die Politik.

Wie er als Pharmazeut dazu gekommen ist, einen Simulator zu entwickeln? Der Schritt sei bei weitem nicht so groß, wie man vermuten könnte, erklärt Lehr: „Ich arbeite seit 20 Jahren mit mathematischen Modellen, denn die spielen in der Klinischen Pharmazie eine große Rolle, beispielsweise bei der Therapieverbesserung“, sagt er. Auch sei er vertraut mit großen Kohortenstudien zur longitudinalen Betrachtung des Verlaufs von Krankheiten wie Alzheimer oder Diabetes. „Wir bearbeiten deshalb auch epidemiologische Fragestellungen und haben bereits Modelle für antivirale Therapien erstellt. Das sind alles recht ähnliche Modelle, von daher ist es nicht so viel Neues für uns.“ Die Idee, seine Expertise auf Sars-CoV-2 anzuwenden, sei dabei allerdings eher der Situation selbst geschuldet gewesen. „Ein bisschen war es die Verzweiflung angesichts der Pandemie. Wir wollten uns einfach sinnvoll einbringen.“

Diese Freiheit, seinen eigenen Arbeitsgegenstand selbstständig wählen zu können, hatte ihn aus eigener Erzählung überhaupt erst an die Uni gebracht. Denn Lehr hat keine klassische akademische Laufbahn absolviert, sondern ist ein Quereinsteiger aus der Pharmaindustrie. „Ich habe bereits im Studium bei einer Firma für klinische Studien und Pharmakokinetik gearbeitet. Das war auch mein erster Berührungspunkt mit mathematischen Modellen“, erzählt er. Die Hälfte seines Praktischen Jahres verbrachte er dann bei Boehringer Ingelheim, die ihm nach der Approbation 2002 auch die Promotion ermöglichten. Es folgten drei Jahre in den USA – in Ridgefield, Connecticut, und ebenfalls für Boehringer – bevor es ihn zurück nach Deutschland zog. 2012 drehte er der Industrie dann den Rücken zu und nahm eine Juniorprofessur an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken an.

„Der Drang nach neuen Herausforderungen und meine intrinsische Neugier haben mich dazu bewogen, die Stelle anzutreten – was sehr ungewöhnlich ist, weil ich von einer sehr gut dotierten Stelle auf eine mit ziemlich geringem Einkommen gewechselt bin“, sagt er acht Jahre später. „Aber Geld ist nicht alles. Und Prof ist der schönste Job, den man haben kann, denn man ist selbstständiger Angestellter. Ich habe hier sehr viel Freiheit, den Fragestellungen nachzugehen, für die ich mich interessiere – auch wenn natürlich auch ich Drittmittel einwerben muss.“ Zurück an der Uni habe ihm seine Vorerfahrung aus der Industrie aber auch geholfen: „Ich weiß aus eigener Erfahrung sehr genau, wie das Prozedere Arzneimittelentwicklung abläuft, und kann dadurch eine andere Perspektive einbringen.“ Gehaltstechnisch ging es in der Zwischenzeit ebenfalls bergauf: 2017 wurde die Junior- in eine ordentliche Professur umgewandelt.

Lehr forschte bisher vor allem in den Bereichen Pharmakokinetik und Pharmakodynamik, er entwickelte mathematische Modelle, um zu beschreiben, was mit Arzneimitteln nach der Applikation im Körper geschieht. Dann begann die Covid-19-Pandemie und Lehr scharte ein Team aus Freiwilligen um sich, mit dem er den Simulator entwickelte. „Das sieht hier aus, wie man sich das als Klischee vorstellt: Ein paar nerdige Wissenschaftler sitzen zwischen Cola-Dosen vor schwarzen Bildschirmen mit kryptischen grünen Codes, wie bei Matrix“, zeigt er sich selbstironisch. „Also eigentlich alles wie immer, außer dass wir plötzlich sehr viel mediale Aufmerksamkeit für unsere Arbeit kriegen.“

Denn Lehrs Simulator ist explizit nicht nur für Fachleute geschaffen, sondern soll jedermann die Möglichkeit geben, sich ein Bild vom Verlauf der Pandemie zu machen. „Das sind sehr viel Mathematik und komplexe Codes dahinter, aber nach außen ist es ein relativ einfaches Interface. Damit wollen wir den Bürgern helfen, zu begreifen, was da gerade passiert. Man kann herumexperimentieren und sehen, was geschieht, wenn sich der R-Wert ändert.“ Der ist auch der Dreh- und Angelpunkt seiner Modellierung; Lehr gibt sich bescheiden angesichts seiner Entwicklung: „Wir machen nicht viel anders als andere“, sagt er. Er weiß aber auch zu erklären, welche Vorteile sein Simulator gegenüber anderen Modellen hat: Es verfügt über eine breitere Datengrundlage als andere Simulationen.

Neben den klassischen Fallzahlen und Sterbe- sowie Genesenenzahlen werfen er und sein Team auch einen Blick in die Daten aus Kliniken und deren Intensivstationen. „Dazu sind wir eine Kooperation mit Med-IT eingegangen, die eigentlich Abrechnungsdaten für Krankenhäuser generieren.“ Dadurch könne er auch beschreiben, wie große der Anteil der Patienten ist, der hospitalisiert werden muss, wie viele Patienten sich momentan in Kliniken aufhalten, auf den Intensivstationen liegen und beatmet werden müssen. „Wir haben Zugriff auf die komplett anonymisierten Daten von rund 10.000 Patienten“, erklärt er. „Wir gehen statistisch davon aus, dass wir etwa 10 bis 15 Prozent der Covid-Erkrankten damit erfassen und davon ableiten können, wer auf die Intensivstation muss, wer stirbt, wie lange er vorher auf der Intensivstation liegt und so weiter.“

Auf dieser breiteren Grundlage errechnen Lehr und sein Team einen R-Wert, der dem des RKI meist recht nahekomme – aber einen besonderen Vorteil hat: „Ein Kollege aus der Virologie meinte zu mir, der RKI-Wert ist eine Nussschale im Meer, die hin und her schwankt, unser Wert hingegen ist eher ein Tanker, der sich stabil bewegt.“ Durch die größere Stabilität des Wertes könne besser festgestellt werden, wann er sich wie verändert und ob die Veränderung statistisch signifikant ist. Dadurch könnten der Einfluss unterschiedlicher Faktoren und die Wirkung bestimmter Infektionsschutzmaßnahmen besser quantifiziert werden.

Und das wiederum macht Lehrs Simulator für die Politik besonders interessant. „Ich werde immer wieder gefragt, ob die Bundeskanzlerin schon angerufen hat – nein, hat sie nicht“, scherzt er. Tatsächlich aber lässt sich die saarländische Landesregierung unter Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) von ihm beraten und mehrere andere Landesregierungen greifen auf sein Modell zurück – welche, das kann er jedoch nicht genau sagen. „Da wir den Simulator offen zugänglich gemacht haben, habe ich keine Einsicht, wer genau auf ihn zugreift. Allerdings weiß ich aus verlässlicher Quelle, dass auch andere Landesregierungen ihn nutzen“, erzählt er. „Über diese Verbreitung kann man glücklich und stolz sein, aber man darf sich auch nicht zu ernst nehmen.“

Eine präzisere Quantifizierung der Wirkung verschiedener Maßnahmen ermöglicht darüber hinaus auch Lehr selbst als beratendem Fachmann eine eindeutige Meinung: „Die jetzigen Maßnahmen haben eine Wirkung erzielt, sind aber nicht ausreichend“, sagt er. Zwar sei anhand der Daten klar zu erkennen, dass der Lockdown light, der seit Anfang November gilt, Auswirkungen hat: Im Oktober lag der R-Wert Lehrs Berechnungen zufolge bei 1,43, mittlerweile ist er auf knapp über 1 gesunken. Doch das reiche nicht, denn Lehr geht nicht davon aus, dass er sich mit dem jetzigen Maßnahmenpaket spürbar weiter senken lässt. Um eine nachhaltige Trendwende herbeizuführen, sei jedoch eher ein Wert um 0,7 notwendig. „Wir sind weit davon weg, die Lage wieder unter Kontrolle zu haben. Wenn wir das so beibehalten wie jetzt, werden die Krankenhäuser sich weiter füllen und ein möglicher Kollaps rückt näher. Denn wir gehen auch bei dem Wert von 1 von einem sehr hohen Infektionsniveau aus – und wenn wir uns die Inzidenz anschauen, dann dauert das noch sehr lange, bis wir da wieder runterkommen. Es ist wie bei einem Arzneimittel: Wenn Sie da eine gesättigte Clearance haben, geht das nicht so schnell von allein wieder weg.“

Er gehe deshalb davon aus, dass künftig weitere, schärfere Maßnahmen folgen. Doch welche genau? Da ist er sich selbst auch noch nicht ganz sicher – schließlich beginnt hier schon das Feld der Politik. „Das ist wie mit Blutverdünnern oder oralen Antidiabetika: Man kann keine Wirkung ohne Nebenwirkungen erzielen. Deshalb muss man beides ausbalancieren“, sagt er, betont aber auch, dass abgesehen von den besonders hart betroffenen Berufsgruppen in Gastronomie, Kultur und Veranstaltungsgewerbe ein Großteil der Bevölkerung mehr oder weniger uneingeschränkt arbeiten könne. „Wir müssen auf jeden Fall persönliche Zusammenkünfte weiter reduzieren und auch nochmal über die Schulen nachdenken“, sagt Lehr. Neuere epidemiologische Erkenntnisse würden nahelegen, dass es einen erheblichen Unterschied zwischen den Altersgruppen in den Schulen gäbe. So hätten jüngere Schüler zwar mehr Kontakte als ältere – dafür zeige sich, dass die Kontakte in höheren Jahrgangsstufen sehr viel vermischter seien. Es ist eine Erkenntnis, die sich mit der Erfahrung vieler Menschen decken dürfte: In der Grundschule war man eher im Klassenkollektiv unterwegs, in den späteren Jahren hatte man dann auch mehr Kontakt zu den Schülern aus Parallelklassen.

Doch solche Erkenntnisse müssen auch mit validen wissenschaftlichen Daten unterfüttert werden. Deshalb plant Lehr bereits das nächste Forschungsprojekt: Gemeinsam mit Kollegen aus der Virologie und der Pädiatrie will er eine Studie durchführen, bei denen Schüler mit Distanzmessgeräten ausgestattet werden. „Die funktionieren vom Prinzip her wie die Corona-App, nur viel präziser“, erklärt er. „Dadurch können wir Informationen generieren, die uns bisher fehlen, um die Rolle von Schulen bei der Verbreitung besser einzuschätzen.“ So könnte er seine These untermauern, dass eine Teilschließung von Schulen eine geeignete Maßnahme wäre, um den R-Wert weiter zu drücken. Demnach könnten jüngere Kinder weiter vor Ort unterrichtet werden, während älter Schüler von zuhause aus lernen.

Auch das dürfte ihm wieder einige mediale Aufmerksamkeit bringen, gehören Schulschließungen doch zu den am härtesten diskutierten Maßnahmen. Mit der medialen Aufmerksamkeit ist das allerdings so eine Sache: Auch wenn sie schmeichele, mache sie nicht nur die Arbeit anstrengender, sondern Lehr muss im Kleinen auch erleben, was Kollegen wie Charité-Virologie Professor Dr. Christian Drosten im Großen durchmacht: „Wir erhalten extrem viel positives Feedback und auch gut gemeinte Verbesserungsvorschläge zu unserem Simulator. Ich habe aber auch schon eine Handvoll Hassmails erhalten, in denen ich zum Beispiel als ‚Merkels Dickdarm‘ beschimpft werde“, erzählt er. Doch er gibt sich gelassen: „Das ist auch der Zeit geschuldet. Nach den 80 Millionen Bundestrainern kommen nun die Hobby-Epidemiologen.“

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