Späte Impfempfehlungen

Booster: Stiko-Chef räumt Versäumnisse ein

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Berlin -

Die Kritik an der verspäteten Booster-Impfung inmitten der vierten Corona-Welle wächst – und damit gerät auch die Ständige Impfkommission (Stiko) unter Druck. Im ARD-Politikmagazin „Panorama“ räumt der Vorsitzende Professor Dr. Thomas Mertens erstmals Versäumnisse ein. Der Beitrag läuft am Abend um 21.45 Uhr im Ersten.

Mertens räumte im Gespräch mit „Panorama“ ein, dass bestimmte Entscheidungen „aus der heutigen Perspektive“ zu spät erfolgt sind. So wäre es laut Mertens „wahrscheinlich günstiger gewesen, mit dem Boostern früher anzufangen“. Dass die Stiko so lange für ihre Entscheidung brauchte, erklärte Mertens damit, dass man erst definiere, welche Daten man brauche, um zu einer Empfehlung kommen zu könne. „Und wenn das festgelegt ist, dann müssen diese Daten erhoben, erarbeitet werden. Und wenn diese Daten vorliegen, dann fängt die Stiko an, diese Daten zu diskutieren.“

Kritik aus Israel

Der ehemalige Leiter des israelischen Impfprogrammes, Ronnie Gamzu, zeigt sich gegenüber „Panorama“ schockiert über die Langsamkeit der deutschen Kolleg:innen: „Das war einfach total falsch. Wir hatten klare Beweise, wir haben die Daten. Es gab keine wissenschaftliche Basis dafür zu sagen, die Auffrischimpfung bringe nur den über 65- oder 70-Jährigen etwas. Wir haben gesehen, dass die Zahl der Antikörper auch bei 40-Jährigen zurückgeht. Was für Beweise braucht man denn noch?“

Mertens entgegnete, man habe die „israelischen Daten und die Evidenz erst aufarbeiten“ müssen. „Der Vergleich mit Israel ist an vielen Punkten nicht möglich“, so Mertens. Die Evidenz in einem anderen Land sei eben nicht einfach übertragbar. Für den Israeli Gamzu nicht nachvollziehbar: Deutschland habe die einmalige Chance verpasst, anhand der israelischen Daten in die Zukunft zu blicken. Diese zeigten, was in Deutschland drei Monate später auch passiere.

Zu wenig Impfstoff

Im Interview mit „Panorama“ erklärt der Stiko-Vorsitzende auch, es sei nicht Aufgabe der Stiko, die Umsetzung der Impfung zu organisieren oder darüber zu befinden, wie die Impfstoffe beschafft und verteilt werden. „Das sind alles Dinge, die die Stiko überhaupt nicht betreffen.“

Gleichzeitig räumte er allerdings ein, dass genau solche Faktoren Einfluss auf die Stiko hätten: „Das sehen Sie an der Frage der Empfehlung der über 70-Jährigen“, so Mertens. „Da nicht absehbar war, dass wir in unserer Bevölkerung so schnell wie in Israel eine Durchimpfung vornehmen können, musste man auf jeden Fall zunächst die Menschen schützen, die auch ein hohes Risiko für schwere Erkrankung haben. Und das war der Hauptgrund für diese Empfehlung.“

Demnach hat die Stiko allerdings nicht aufgrund der reinen Datenlage zugunsten der über 70-Jährigen entschieden, sondern auch aufgrund der schlechten deutschen Impf-Infrastruktur. Diese wurde während der vergangenen Monate durch die bundesweite Schließung der Impfzentren sogar weiter abgebaut – ohne, dass die Stiko öffentlich dagegen protestiert hätte.

Schlechte Ausstattung

Die Stiko sei stellenweise von der Politik auch alleingelassen worden: „In der Situation einer Pandemie hätte man eine bessere Personalausstattung sicher gut gebrauchen können“, bemängelte der Vorsitzende. „Für die besondere Situation im Augenblick müsste es mehr Personal geben, auch vor allen Dingen auch aus verschiedenen Bereichen Epidemiologen, Modellierer, also Fachleute, die mit mathematischen Modellen umgehen können. Da wäre eine noch größere, bessere Ausstattung sicher hilfreich.“

In der Bundespressekonferenz hatte sich der geschäftsführende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn nichtsahnend gegeben: „Mir gegenüber hat Professor Mertens einen Personalbedarf bisher nicht geäußert, wenn das so ist, dann rufe ich ihn gleich an und spreche mit ihm drüber.“

Auf Nachfrage von „Panorama“ antwortet ein Sprecher des Gesundheitsministeriums: „Bundesminister Spahn steht mit dem Vorsitzenden der Stiko regelmäßig im Austausch, so auch wie angekündigt am letzten Freitag. Die Gespräche sind vertraulich. Aber gehen Sie davon aus, dass das von Ihnen genannte Thema auch angesprochen wurde. Über künftige Haushaltsfragen entscheidet die sich bildende Bundesregierung.“

Auch Hausärzte kritisieren Stiko

Die Kritik an der Stiko war in den letzten Wochen immer lauter geworden: So hatten Hausärzt:innen das Gremium unter anderem für ihre späten Entscheidungen und ihre schlechte Kommunikation kritisiert. Der als „Impfluencer“ bekannt gewordene Ulmer Hausarzt Christian Kröner erklärt in Panorama : „Wir haben zum Beispiel im Juni schon Kinder geimpft zwischen 12 und 17 Jahren, weil der Impfstoff in dieser Altersklasse getestet und zugelassen war. Aber es gab noch keine Stiko-Empfehlungen. Das Impfen ist rechtlich aber völlig einwandfrei.“

Doch nicht alle Kolleg:innen wüssten dies: „Ich glaube, dieses Missverständnis kommt auch bei vielen ärztlichen Kollegen einfach daher, dass Impfungen nur dann erstattet werden von den Krankenkassen, wenn die Stiko-Empfehlung dafür da ist. Und das ist dann teilweise der Irrglaube, weil in dem Fall der Kostenträger einfach der Bund ist und nicht die Krankenkassen. Und das führt auch bei ärztlichen Kollegen teilweise zu sehr viel Verwirrung.“

Späte Entscheidungen in Serie

Schon während des ganzen Jahres hatte die Stiko für ihre Entscheidungen in der Pandemie länger als andere gebraucht: So empfahl die Kommission noch bis 10. September keine Impfung von Schwangeren, während die USA und Israel bereits seit Juli 2021 dringend dazu rieten. Das Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf hatte bereits am 3. Mai dringend zur Schwangeren-Impfung geraten, weil diese ein viel höheres Risiko für eines schweren Verlaufs hätten.

Auch bei der Impfempfehlung für Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren ließ sich die Stiko Zeit. Dabei sollte die Impfung auch den Lockdown von Schulen verhindern. Für Hausarzt Kröner völlig unverständlich: „Meiner Meinung nach hätte die STIKO schneller in den Pandemiemodus schalten müssen, was sie bis heute nicht getan haben.“

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