Apothekerin kämpft in Argentinien gegen Corona

Apotheker ohne Grenzen: „Wir sind sowas von ausgepowert“

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Berlin -

Die wirtschaftliche und soziale Lage Argentiniens könnte kaum unterschiedlicher sein als die hiesige – trotzdem sind einige der Probleme der Pandemiebekämpfung genau dieselben wie hierzulande. Sieben Monate war Dr. Carina Vetye für Apotheker ohne Grenzen (AoG) in Argentinien und versucht dort, die Covid-19-Pandemie in einem der Elendsviertel von Buenos Aires zu managen. Die Aufgabe brachte sie an die Grenzen ihrer Kraft.

„Wir sind sowas von ausgepowert“, sagt Vetye. Seit März hat sie in Villa Zagala die Apotheke des dortigen Gesundheitszentrums betrieben – sechs Wochen wollte sie eigentlich bleiben, am Ende sind sieben Monate daraus geworden. Und in denen hat die Pandemie bedrohlich an Fahrt aufgenommen. Stand Argentinien Anfang Juni zumindest den offiziellen Zahlen nach mit rund 32.000 Infektionen und 850 Todesfällen noch relativ gut da, hat Covid-19 mittlerweile voll eingeschlagen: Anfang Oktober steht das Land mit knapp 800.000 bestätigten Infektionen und über 21.000 Todesfällen nach totalen Zahlen bereits weltweit an siebter Stelle. „Juli, August und September waren die schlimmsten Monate“, sagt Vetye. Und die drei Monate haben eines gemeinsam: Es sind die Wintermonate, vor denen hierzulande vielen bange ist.

Zumindest in Argentinien haben sie zu einem extremen Anstieg der Fallzahlen geführt – wobei das wegen der grundlegend anderen Situation nur sehr bedingt mit Deutschland vergleichbar ist. Was allerdings stark an Deutschland erinnert: Vetye führt den Anstieg vor allem auf nachlassende Disziplin beim Infektionsschutz zurück. „Es gab hier eine sehr frühe und sehr strikte Ausgangssperre, auf die die Menschen irgendwann keine Lust mehr hatten“, erklärt Vetye. „Als sie nach drei bis vier Monaten Lockdown angefangen haben, sich wieder privat zu treffen, gingen die Zahlen hoch. Da haben sich ganze Familien zusammengesetzt, eine Mischung aus 30-, 60- und 90-Jährigen. Solche Fehler verzeiht das Virus nicht.“

Hinzu seien überzogene Hygienevorschriften gekommen. „Staatlicherseits wurden zahlreiche Maßnahmen, von häufigem Duschen, über Haare waschen bis zum regelmäßigen Wechseln der Kleidung nach jedem Aufenthalt außerhalb des Hauses empfohlen. Das halte ich für völlig übertrieben. Wenn ich den Leuten sage, dass sie 50 Maßnahmen einhalten sollen, dann halten sie keine davon ein.“ Maske, Abstand, regelmäßiges Lüften, Handhygiene – das seien die zentralen Regeln, die sie den Menschen vermittelt hat.

Stattdessen seien behördliche Maßnahmen oft an den eigentlichen Bedürfnissen vorbeigegangen – beispielsweise mit der Desinfektion ganzer Straßenzüge. „Das bringt nichts, außer dass es überall stinkt“, sagt die deutsch-argentinische Apothekerin, die die Desinfektionsmittelduschen selbst zu ertragen hatte. Denn vor allem in den Wintermonaten stand Vetye nicht nur in der Apotheke, sondern war im Viertel unterwegs zu 40 sogenannten Befragungs- und Testtagen: In voller Seuchenschutzmontur ging sie von Haus zu Haus, um im engsten Wortsinne vor Ort Hilfe zu leisten. „Wir hatten den Eindruck, im Viertel ist jeder positiv!“, sagt sie.

Dabei haben Vetye und ihre Kolleginnen mit Fragebögen versucht herauszufinden, wer sich mit Sars-CoV-2 angesteckt haben könnte, und notwendige Impfungen nachgeholt, von der Grippe über Pneumokokken, und auch schon zu Dengue-Fieber aufgeklärt, denn die Aedes-Mücken sind im September mit den ersten etwas wärmeren Tagen da. „Wir haben massiv gearbeitet, um im Viertel zu impfen und aufzuklären“, sagt sie. „Aber das Problem bei solchen Aktionen ist: Man geht, um Problem A, B und C zu lösen und findet unterwegs Problem D, E und F.“ Das mit 70 Prozent am häufigsten gemeldete Problem war, dass den chronisch kranken Slum-Bewohnern ihre Medikamente fehlen. „Da gab es Diabetiker, Asthmatiker und Hypertoniker, die teils seit Monaten ohne Medikamente dasaßen!“ Selbst Tuberkulosefälle habe sie bei den Touren entdeckt.

Auf das Erreichte sei sie stolz, sagt Vetye. Doch während sie vor Ort akute Hilfe leisten konnte, geriet die Pandemie im restlichen Land zusehends außer Kontrolle – parallel zur immer dramatischeren wirtschaftlichen Situation. „Die Provinz Buenos Aires befindet sich im Notstand, die kann gar nichts mehr stemmen.“ Die Etats für Kultur, Bildung und Schulwesen seien bereits für die Pandemiebekämpfung aufgebraucht worden, die Stadtverwaltung habe versucht, einzuspringen, könne aber auch nicht mehr viel bewegen. Das Resultat: Es fehlt an allem, von Personal bis Arzneimittel.

„Es sind noch mehr Engpässe aufgetaucht, es gibt massive Importprobleme und ich kann nicht nach dem besten Preis suchen, sondern muss schauen, dass ich überhaupt noch etwas bekomme. Hier schraubt sich etwas nach unten und wir erwarten, dass der kommende Crash größer wird als die Krise 2001. Argentinien ist seit drei Jahren in der Rezession und dann kommt auch noch die Covid-19-Pandemie. Jetzt gibt es immer mehr Menschen, die Unterstützung vom Staat einfordern, weil sie wegen des Lockdowns seit sieben Monaten nicht arbeiten dürfen. Doch der Staat ist pleite. Wir werden mindestens zwei Jahre brauchen, um auf den Stand von Anfang 2020 zu kommen – und der war schon sehr schlecht.“

Es wirkt ein wenig, als würde sich Vetye für den kommenden Sturm rüsten. Seit dem 4. Oktober ist sie in Deutschland – aber nur für einige Wochen, dann geht es zurück nach Argentinien. Ihre zwei Helferinnen müssen in der Zeit ohne sie auskommen – keine von ihnen ist Pharmazeutin oder PTA. Denn die sechs bis Anfang 2020 ehrenamtlich mitarbeitenden, argentinischen Apothekerinnen – Rentnerinnen von 70 oder 80 Jahren – fallen als Risikogruppe langfristig aus. Und genau dieser Umstand hat Vetye schon das nächste Projekt eingebracht: Sie will spanischsprachige Schulungsmaterialien für nicht pharmazeutisch ausgebildetes Personal erarbeiten, damit das bei derartigen Hilfsprojekten auch ohne die Anleitung ausgebildeter Apotheker eine korrekte Abgabe von den begrenzt vorhandenen Basisarzneimitteln durchführen kann: Leitfäden samt Dosierungen, Einnahmezeiten, besonderen Indikationen und allen wichtigen Informationen, die für eine Abgabe unter solchen Bedingungen notwendig sind.

„In den Slums gibt es meist nur 50 Wirkstoffe. Ich vermisse immer wieder gutes pharmazeutisches Schulungsmaterial für Menschen, die nur eine Primarschule besucht haben. Da kann man sich als Apotheker sehr gut einbringen. Das ist etwas, was Apotheker ohne Grenzen macht!“ Ihre Helferinnen müssen vorerst ohne Leitfaden auskommen – dafür können sie über Whatsapp direkt bei Vetye nachfragen, wenn sie sich unsicher sind. Eine kurze Verschnaufpause kann sie sich also gönnen, bevor es zurück geht. Die hinter ihr liegen Arbeit macht es möglich: „Es ist, als ob man einen Deich baut und hofft, dass er hält. Das tut er auch im Moment – aber das Wasser steht bis unter die Kante.“

 

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