Folgen der Kontaktsperre

Corona-Strategie: Geller warnt vor Zusammenbruch

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Berlin -

Als ein Unternehmen in der saarländischen Grenzregion zu Frankreich steht Kohlpharma vor besonderen Herausfoderungen in der Corona-Krise. Schon vor drei Wochen wurde der im Zusammenhang mit der Vogelgrippe erarbeitete Pandemieplan aktiviert und angepasst. Infektionsfälle gibt es beim Parallelimporteur bislang keine. Geschäftsführer Jörg Geller unterstützt zwar die von der Bundesregierung beschlossenen Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus, fragt aber, ob diese nicht über das Ziel hinausschießen.

ADHOC: Wie geht Kohlpharma mit dem Corona-Thema um?
GELLER: Vor drei Wochen haben wir unseren Vogelgrippe-Pandemieplan sofort aktiviert und an das Coronavirus angepasst. Die ohnehin schon hohen Hygienestandards bei Kohlpharma wurden nochmals überprüft und angepasst. Wo es geht, arbeiten unsere Mitarbeiter im Homeoffice. Im gewerblichen Bereich achten wir sorgfältig auf die Abstandsregeln. Bislang gibt es bei Kohlpharma keinen Infektionsfall.

ADHOC: Auch im Saarland steht das Wirtschaftsleben weitgehen still. Was sind Ihre Beobachtungen?
GELLER: Seit Wochen bestimmt Corona gefühlt zu 100 Prozent unser Leben, unsere Gesellschaft und nicht zuletzt unsere Arbeitswelt. In den Nachrichten geht unser Blick sehr schnell auf die täglichen Statistiken wie jener der Johns Hopkins Universität zur Entwicklung der weltweit an Covid-19 Erkrankten sowie der steigenden Todesrate, hinter der individuelle Schicksale stehen. Dann lesen oder hören wir von den verschiedenen Entscheidungsträgern neu verkündete und immer weiter einschneidende Begrenzungen des wirtschaftlichen und des sozialen Lebens bis hin zu den bürgerlichen Grundfreiheiten.

ADHOC: Sehen Sie die Arzneimittelversorgung in Gefahr?
GELLER: Ich sehe mit größtem Respekt und Dank, wie nicht nur das medizinische und pflegerische Personal sondern auch unsere Kunden und deren Mitarbeiter im pharmazeutischen Großhandel und in den deutschen Vor-Ort-Apotheken jeden Tag Enormes leisten, um die flächendeckende Arzneimittelversorgung auch in dieser Krise sicherzustellen.

Ich sehe mit größtem Respekt und Dank, mit welcher Motivation unsere eigenen Mitarbeiter, ob im Homeoffice oder notwendigerweise vor Ort und unter den Erschwernissen des aktivierten und sich fortschreibenden Pandemieplanes, ihren täglichen Beitrag zur kontinuierlichen Belieferung der Apotheken und des pharmazeutischen Großhandels mit lebensnotwendigen Medikamenten beitragen.

ADHOC: Wie beurteilen Sie die von der Bundesregierung getroffenen Einschränkungen des öffentlichen Lebens und für die Wirtschaft?
GELLER: Ich gebe zu, dass ich anfänglich ein Befürworter des „What ever it takes“ war, um die Verbreitung des Coronavirus zum Zwecke der Vorbereitung und Stärkung des Gesundheitssystems zu verlangsamen. Inzwischen bin ich unsicher, ob die Gefährdung von Menschenleben durch Covid-19 oder die Aufgabe all dessen, wofür die westliche Welt bisher stand, mich mehr beängstigt. Das gilt umso mehr, als dass völlig unklar ist, ob die ergriffenen Maßnahmen überhaupt die gewünschte Wirkung haben und was das Abflachen der Kurve von neu positiv Getesteten am Ende bewirkt. Selbst Kapazitäten wie der Bonner Virologe Professor Dr. Hendrik Streeck waren mit der Aussage zu vernehmen, dass entsprechende Studien nicht vorliegen oder bereits 100 Jahre alt sind. Auch der anerkannte und mittlerweile medial bekannte Virologe der Charité, Professor Dr. Christian Drosten äußerte seine Unsicherheit, ob alle getroffenen Maßnahmen ihre beabsichtigte Wirkung erzielen.

ADHOC: Sie sehen also keine belastbare Grundlage für die verhängten Einschränkungen?
GELLER: Unsicherheit ist der allgegenwärtige Faktor in dynamischen Prozessen mit vielen Unbekannten. So gesehen liegt es mir fern, die Motive und die guten Absichten der Entscheidungsträger pauschal zu kritisieren. Ich möchte als Verantwortungsträger in einem Unternehmen und für Mitarbeiter, hinter denen Familien stehen, jedoch dafür plädieren, dass wir die kurz-, mittel- und langfristigen Folgen der „Anti-Corona-Strategie“ im Blick haben. Jede Strategie braucht von Anfang an auch eine Exit-Strategie, sonst drohen gute Absichten in eine nachgelagerte Katastrophe zu führen.

ADHOC: Schießen die Maßnahmen Ihrer Meinung nach über das Ziel hinaus?
GELLER: Die Auswirkungen auf unsere Freiheitsrechte und Weltwirtschaft sind bereits jetzt verheerend. Ebenso sehe ich die europäische Idee in Frage gestellt. Mich erschüttert, dass angeblich 95 Prozent der deutschen Bevölkerung dazu applaudieren. Statt den Versuch zu unternehmen, die Probleme insgesamt europäisch zu lösen, verfallen die Staaten nach dem Motto „Rette sich wer kann“ in kleinstaatliches Denken und beachten nicht, dass weder Viren noch Wirtschaftskrisen in der heutigen vernetzten Welt an zum Teil nur noch theoretisch vorhandenen Landesgrenzen halt machen.

Ich bin als Geschäftsführer eines Unternehmens sowie als Vorstandsmitglied eines nationalen und Präsident eines europäischen Branchenverbandes für einen wichtigen Teil der deutschen und europäischen Arzneimittelversorgung verantwortlich. Kein Land dieser Welt, nicht einmal die Europäische Union oder die Vereinigten Staaten sind autark, wenn es um Arzneimittel geht. Wirkstoffe werden heute oft in Asien produziert, Tabletten werden aus steuerlichen Gründen in Irland gepresst und die Verpackung findet in einem dritten Land statt, aus dem dann möglicherweise die weltweite oder europäische Versorgung stattfindet.

ADHOC: Welche Maßnahmen billigen Sie nicht?
GELLER: Grenzen unabgestimmt zu schließen, Exportverbote für bestimmte Ausgangs- oder Fertigwaren zu erlassen oder eine Industrieproduktion mit Ausnahme weniger Schlüsselindustrien gänzlich zu verbieten ist vor dem Hintergrund des oben genannten Mottos „What ever it takes“ vordergründig gut gemeint, aber letztlich vollkommen kontraproduktiv. Wenn die Warenströme von der arbeitsteiligen Produktion über eine ausgeklügelte Just-in-time-Logistik bis hin zur Verteilung an die Patienten über Großhandel und Apotheken nicht mehr sichergestellt sind, können zunehmende Engpässe an Arzneimitteln nicht vermieden werden. Auch das gefährdet akut Menschenleben. Und es gefährdet die Zukunft unserer Kinder und Enkel.

Mir scheint es auch naiv zu glauben, dass es systemrelevante Schlüsselindustrien gäbe, diese leicht zu identifizieren seien, um dann alles andere wie in Italien zu schließen. Wenn ich Arzneimittel produzieren möchte, benötige ich Rohstoffe, zum Beispiel aktive Substanzen, Hilfsstoffe, Farbstoffe, Verpackungsmaterial unterschiedlicher Art, eine EDV, Lagerlogistik und vieles mehr. Alle Vorlieferanten benötigen ihrerseits funktionierende Zulieferketten. Am Ende erscheint es so, als würde man in einem Uhrwerk manche Rädchen wichtiger nehmen als andere – ohne zu beachten, dass die Uhr bei Entnahme selbst des kleinsten Rädchens stehen bleibt.

ADHOC: Wie sieht ihre Situation als Arzneimittelimporteur aus?
GELLER: Als Arzneimittelimporteure sind wir nur ein Rädchen dieser Uhr, das in Deutschland für 10 Prozent des Gesamtumsatzes mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln steht. Kommen diese Arzneimittel wegen willkürlicher Exportbeschränkungen, zu aufwendigen Grenzkontrollen oder gar -schließungen nicht oder nicht rechtzeitig bei uns an, gibt es völlig unnötige Lieferverzögerungen bis hin zu weiteren Versorgungsengpässen. Wir können in diesen Ausführungen das Wort Arzneimittel streichen und ein beliebiges, arbeitsteilig hergestelltes Produkt aus etlichen anderen Branchen setzen – der grundlegende Zusammenhang bleibt der gleiche.

Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich ganz klar sagen, dass es nicht darum geht, Humanität und Wirtschaft gegeneinander auszuspielen. Es geht mir um die zur Zeit sehr schwierige Balance. Ich plädiere daher bei allem Respekt an die politischen Entscheidungsträger – mit deren schwierigen Situation ich nicht tauschen möchte – für Augenmaß in der jetzigen Lage, für unbedingte europäische Solidarität, eine funktionierende „Ökonomie der Kräfte“ als Grundlage für alles andere und dafür jede Entscheidung auch vom Ende her zu denken.

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