Chronik eines Absturzes

AvP-Insider packen aus Alexander Müller, 03.11.2020 12:34 Uhr

Bei AvP gab es seit Jahren Unregelmäßigkeiten. Foto: APOTHEKE ADHOC
Berlin - 

Parallel zum nunmehr eröffneten Insolvenzverfahren zu AvP steht die strafrechtliche Aufarbeitung an. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen zwei Personen und wird sich über die konkreten Vorgänge auch mit Insolvenzverwalter Dr. Jan-Philipp Hoos austauschen. Ein Insider berichtet gegenüber APOTHEKE ADHOC, dass einer mutmaßlichen Bilanzfälschung intern schon lange nachgegangen wurde.

Ungereimtheiten beim Rechenzentrum hat es schon 2016 gegeben haben. Der damalige Wirtschaftsprüfer Dr. Ralf Landwehrmann soll ein Audit der Abrechnungs- und IT-Systeme angestoßen haben. Sein Fokus: die Rabattverfallabrechnung. Denn es stand der Verdacht im Raum, dass der Rabattverfall in Wahrheit nicht so hoch war wie gebucht. Doch der Bericht, der in der Folge an Landwehrmann herausgegeben wurde, soll von AvP-Chef Mathias Wettstein „zensiert“ worden sein. Der Wirtschaftsprüfer hat sein Mandat dann irgendwann aus eigenen Stücken niedergelegt.

Die Bilanzen wurden gefälscht, weil offenbar auch ein ehemaliger Geschäftsführer bei AvP in die Kasse gegriffen haben soll. Auch gegen ihn ermittelt die Staatanwaltschaft Düsseldorf. Wettstein dagegen hat mehreren Quellen zufolge die Gelder aus dem Verkauf der Rezeptdaten an Marktforschungsunternehmen über eine andere Firma aus seinem verzweigten Unternehmensgeflecht abgewickelt: Die MW Aviation ist auch die Chartergesellschaft von Wettsteins Privatjet, einer Embraer Phenom 300. Ob es hier in den Bilanzen nicht nachvollziehbare Bewegungen gab, dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit Gegenstand der Ermittlungen sein.

Darauf deutet auch ein Bericht des Handelsblatts hin, der gestern zum Thema AvP erschienen ist. Demnach hat sich einer der Beschuldigten „offenbar direkt von den Konten“ bedient – dabei handelt es sich um den zwischenzeitlich geschassten Geschäftsführer. Der andere soll eine private Firma genutzt haben, um „sein Hobby zu pflegen: die Fliegerei“. Laut dem Bericht sollen sich beide bei früheren staatsanwaltlichen Ermittlungen gegenseitig gedeckt haben.

Andere geradezu zwangsläufige Mitwisser in der Firma wurden dem Vernehmen nach mit Zuwendungen ruhiggestellt. Leitende Angestellte erhielten großzügige Unternehmensdarlehen für ihre Immobilien oder gut dotierte Posten fernab ihrer Qualifikation und ohne konkrete Arbeitstätigkeit. Auch Aufsichtsratsmitglieder wurden Insidern zufolge etwa mit einem gemeinsamen Ausflug zum Wiener Opernball in Wettsteins Privatjet milde gestimmt.

Doch irgendwann kippte das System. Nach Recherchen des Handelsblatts wurde bei AvP mit den Zahlungen der Kassen jongliert, fehlende Beträge wurden per Umbuchungen von verschiedenen Konten als ausgeglichenes Ergebnis dargestellt. Der eigentliche Fehlbetrag sei so immer größer geworden.

Nach Informationen von APOTHEKE ADHOC hat Geschäftsführer Jochen Brocher irgendwann die Reißleine gezogen und auf eigene Faust eine große Kanzlei als „Schattenberater“ an Bord geholt. Zwar soll Wettstein noch versucht haben, die Beratung zu verhindern, Brocher habe sich aber durchgesetzt. Zuletzt hätten sich dann auch die beiden Vorstände der AG auf seine Seite gestellt – mit der Folge, dass sie alle drei gehen mussten.

Brocher hatte sich geweigert, trotz der auferlegten Sperre der inzwischen eingeschalteten BaFin, noch Überweisungen an Apotheken zu leisten, als noch ein letztes Mal Geld von den Krankenkassen hereinkam. Dieser Teil der Geschichte ist leidlich bekannt. Die Konsortialbanken kündigten im für sie günstigen Moment die Kreditlinie und AvP rauschte in die Insolvenz. In einer Nacht- und Nebelaktion wurde zwar noch 127 Millionen Euro an einzelne Apotheken überwiesen. Das scheint aber mit Blick auf die „Auserwählten“ relativ willkürlich geschehen zu sein, was den Verdacht etwaiger Kick-Back-Geschäfte entkräftet.

Die BaFin hat dann Dr. Ralf Bauer als Sonderbeauftragten eingesetzt, dessen Amt übrigens mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens durch das Amtsgericht Düsseldorf erledigt ist. Jetzt hat Insolvenzverwalter Dr. Jan-Philipp Hoos allein das Sagen. Ein Treppenwitz der Geschichte: Die BaFin hatte zuerst Brocher angerufen und als Sonderbeauftragten angefragt, aber der wollte aus nachvollziehbaren Gründen nicht.

Das Handelsblatt weiß noch zu berichten, dass die beiden beschuldigten Manager sich bei den Befragungen gegenseitig Verfehlungen vorgeworfen haben. Wettsteins Anwalt hat dem Handelsblatt gesagt, dass sein Mandant von sich aus auf die Staatsanwaltschaft zugegangen sei und auch weiterhin mit ihr kooperieren werde. Laut Angaben von Gläubigern bestehen dem Bericht zufolge fast 600 Millionen Euro an offenen Forderungen. Welche Summen Insolvenzverwalter Hoos aktuell in der Masse hat, konnte er gestern im Video-Interview mit APOTHEKE ADHOC noch nicht genau beziffern. Von der letztendlichen Quote wird auch abhängen, ob für einzelne Apotheker Aussonderungsrechte geltend gemacht werden können und ob die Staatsanwaltschaft noch wirksam Anteile an anderen Vermögenswerten ziehen kann.