Apothekenkooperationen

Avie in der Krise Lothar Klein, 20.11.2017 10:41 Uhr

Berlin - 

Persönlich, individuell und umfangreicher Service – das waren jahrelang die Markenzeichen von Avie. Jetzt steckt die zur Kohl-Gruppe gehörende Apothekenkooperation offensichtlich in der Krise. Das Personal wechselt schnell. Der Außendienst ist ausgeblutet. Zusagen werden nicht eingehalten. In einem Brandbrief macht ein langjähriges Mitglied seinem Ärger Luft. Apotheker Klaus Bellwinkel hat die Mitgliedschaft seiner Apotheke im niedersächsischen Rinteln gekündigt. Andere Avie-Apotheker sind ihm bereits gefolgt.

2009 war Bellwinkel mit seiner Apotheke unter das Kooperationsdach von Avie geschlüpft. Bis vor Kurzem war er mit den Leistungen und Angeboten noch zufrieden. Erst zum Jahresbeginn hatte er seinen Vertrag noch einmal verlängert. Doch jetzt reicht es ihm: „Avie ist nur noch ein Flyerbestellportal“, kritisiert er die Arbeit der Zentrale. Es gebe so gut wie keine Kommunikation mehr, schimpft Bellwinkel. Auch die hohe Personalfluktuation ärgert den Apotheker. Unter dem neuen Geschäftsführer Dominik Klahn, der im Sommer 2016 den langjährigen Avie-Chef Dr. Thomas Zenk kurzfristig abgelöst hatte, habe sich die Situation nach einem Jahr „deutlich verschlechtert“. Er könne seine Jahresplanung nicht mehr durchführen. Das schädigt das Geschäft.

Seinen Brandbrief will Bellwinkel als „Weckruf“ ins Saarland verstanden wissen – und hat sich entsprechend Mühe gemacht. An fast alle gut 200 Avie-Apotheken hat er seine Kritik gemailt. Das blieb auch in Merzig nicht ungehört. Aber Avie will sich zu den Vorwürfen nicht äußern: „Kein Kommentar.“ Bestätigt wird nur die Vakanz beim Außendienst. Für die acht Regionen in Deutschland stehen derzeit nur drei Außendienstler für die Kundenbetreuung bereit. Zwei davon sind Apothekern zufolge erst seit Kurzem dabei. Und zum Jahresende hat die letzte verbliebene Vertrieblerin aus der bisherigen Mannschaft bereits ihren Abgang angemeldet.

„Bei vielen wird wohl der Gedanke einer großhandelsunabhängigen, einer in die Zukunft weisenden, gut betreuten und sich für die Apotheke einsetzenden Kooperation im Vordergrund gestanden haben“, schrieb Bellwinkel. Zweck der Mitgliedschaft sei für ihn und die Kollegen aber auch die betriebswirtschaftliche Komponente: „die Frequenz der Kundschaft zu steigern, neue Kunden zu gewinnen, damit sich das monatliche Investment langfristig auswirkt“.

Mit dem neuen Avie-Geschäftsführer habe es zwar viele neue Visionen über die Zukunft der Kooperation gegeben – „über Verbesserungen in der Betreuung, über gemeinsame Ziele in gesundheitspolitischen Themen“. Jedem sei bewusst, dass solche Veränderungen Zeit brauchten und sich auch auf die Partnerschaft auswirkten. Bellwinkel: „Aber nach einem Jahr sieht man nicht viel davon, sondern es ist eher ein mehr negatives Resümee zu ziehen.“

Hauptkritikpunkt ist die „Kommunikation der Systemzentrale“. Diese sei „dilettantisch“, man werde schlecht oder überhaupt nicht über personelle Veränderungen benachrichtigt – „teilweise als Zweizeiler per Fax, mit Glück als E-Mail, in Ausnahmen ein offizieller Brief“. Das sei sein Beweggrund für diesen offenen Brief.

Dass sein Systembetreuer seit September nicht mehr für Avie arbeite, sei ihm von offizieller Seite bis heute nicht kundgetan worden – und auch der neu eingestellte Nachfolger sei zum 31. Oktober wieder gegangen. „Dies ist mir nur aufgrund der hohen Vertrauensbasis meines ehemaligen Betreuers bekannt, der mühselig versucht hat, den Scherbenhaufen so klein wie möglich zu halten“, so Bellwinkel.

Bei bis zu drei Betreuerwechseln in vier Jahren könne kein persönliches Verhältnis aufgebaut werden. Hieraus resultiere Frustration, „da man bei der Umsetzung geplanter Aktionen aktuell im Stich gelassen wird“. Aktionen für das kommende Jahr 2018 könnten nicht geplant werden. Schnell eingefädelte Aktionen verliefen fehlerhaft oder brächten keinen Erfolg.

Anderseits werde von den Avie-Apotheken die strikte Umsetzung von Aktionen vor allem in der Sichtwahl verlangt, damit Werbezuschüsse überhaupt noch ausgeschüttet oder die erforderlichen Umsätze generiert würden. Auch die Flyervorgaben seien zu eng gefasst, Austauschmöglichkeiten nicht mehr vorhanden, kritisiert Bellwinkel: „Warum wurde die Austauschliste von der Attraktivität her so beschnitten?! Wie sollen Zielvorgaben erreicht werden, wenn man am Anfang des dritten Quartals die Differenzliste erhält und einem die Möglichkeiten der Gegensteuerung genommen wird?!“ Es werde nicht mehr lange dauern, bis Warenpakete unaufgefordert zugesandt würden, wenn man sie nicht aktiv ablehne: „Alles fragwürdige Methoden, die sich bei der Avie eingeschlichen haben!“

Auf Kritik stößt bei Bellwinkel auch der Deutsche Apothekenpreis, der von Avie veranstaltet wird. Es sei auffällig, dass noch nie eine Apotheke aus dem eigenen Verbund unter den Gewinnern zu finden gewesen sei. „Wo profitieren die Avie-Apotheken durch diesen Preis?! Dieser Preis wird wohl zweifellos durch die Beiträge oder durch Rückvergütungen der Industrie gesponsert!“, so der verärgerte Apotheker.

Bellwinkels Brandbrief hat entsprechende Reaktionen ausgelöst. Der Dortmunder Apotheker Markus Scheibner hat mit den sechs Avie-Apotheken seiner Familie ebenfalls gekündigt. Auch ein anderer Avie-Apotheker ist nach nur einem Jahr Mitgliedschaft enttäuscht. „Das mir 2016 von Avie vorgestellte und auch so von vielen Kollegen bei der Veranstaltung in Merzig bestätigte Konzept kam meinen Vorstellungen sehr nahe. Die von mir beobachtete Entwicklung im ersten Jahr meiner Mitgliedschaft geht eher in eine andere Richtung als von mir gewünscht“, schrieb er als Reaktion auf Bellwinkles Brandbrief. Bellwinkel sieht sich auch durch andere Reaktionen in seiner Sicht und Kritik bestätigt: „Viele Apotheker haben sich bei mir gemeldet.“

Jens Wiesenhütter geht sogar noch weiter. Er schlägt der Systemzentrale vor, die Mitgliedschaft bis auf Weiteres kostenfrei zu stellen. Der Inhaber mehrerer Apotheken in Potsdam war bereits bei Meine Apotheke und Linda – Avie fand er besser. Er hätte gerne das bauliche Konzept genutzt, doch gehört hat er von der Zentrale in dieser Sache nichts mehr.

Stattdessen hat er mittlerweile einen Rechtsstreit mit seinem Verbund: Flyer waren nicht ordnungsgemäß verteilt worden, Wiesenhütter zahlte nicht. „Echte Partnerschaft sieht anders aus“, sagt er. Immerhin konnte er in der vergangenen Woche mit Firmenchef Edwin Kohl sprechen, der ihm zusicherte, die Sache zu klären. In dieser Woche will sich Wiesenhütter mit anderen Avie-Apothekern aus Berlin und Brandenburg zusammensetzen. Einen geschlossenen Austritt will er nicht ausschließen.

Allerdings gibt es auch zurückhaltendere Äußerungen: „Wie so manch einer hier in der Avie-Kooperation bemerke auch ich Veränderungen“, reagierte Apotheker Jens Boving aus Ellwangen. „Die Probleme mit der Betreuung scheinen regional unterschiedlich zu sein. Auch wir hatten in Baden-Württemberg so unsere Probleme im letzten Jahr. Zum Glück sind diese im Moment nicht mehr relevant und behoben. Manches war vermutlich unter der Führung von Dr. Thomas Zenk besser.“

Allerdings schlage er vor, die Veränderungen offen zu Diskutieren und nach Lösungen zu suchen. Sein persönliches Anliegen wäre, „dass die Avie-Familie wieder zum dem zurückfindet, was einmal der Unterschied zu anderen Kooperationen war. Die gute familiäre Stimmung und die damit verbundenen Emotionen. Die Freiheit selber mitzugestalten und ein großes Maß an Individualität zu bewahren.“

Warum Zenk vor einem Jahr gehen musste, ist bis heute nicht bekannt. Zu den Gründen für den hastigen Führungswechsel gibt es nur Spekulationen. Innerhalb von wenigen Minuten musste Zenk seinen Schreibtisch räumen. Insider behaupten, dass seitdem das Serviceportfolio „kurz und klein“ gehauen wurde. Abteilungen seien aufgelöst worden, die Unterstützung der Apotheken beim Ladenbau wurde zurückgeschraubt. „Avie dient nur noch dazu, die Kohlpharmaprodukte abzuverkaufen“, heißt es.

Kohl hatte Avie 2004 gemeinsam mit dem Standortentwickler Joachim Birkle gegründet. 2007 erlebte der Verbund einen regelrechten Aderlass, als Birkle im Streit ausschied und knapp 40 der insgesamt 54 Apotheken mitnahm. 2010 war die Gruppe auf 100 Apotheken angewachsen, seitdem hat sich die Zahl wieder verdoppelt.