Heroin

Nationaler Notstand? USA im Opioid-Rausch

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Ashtabula -

Der Dealer fährt einen Mietwagen, er hat ihn sofort erkannt. „Von früheren Festnahmen“, sagt William Felt, während er seinen Wagen langsam über die holprige Straße steuert. Draußen dämmert es, die Luft ist noch warm, es war ein ungewöhnlich heißer
Tag in Ashtabula im Nordosten Ohios für Oktober. Der Polizist fährt vorbei an eingezäunten Wohnanlagen und verrosteten Spielgeräten. Er passiert ein Pflegeheim, das leer steht, seit darin ein Methlabor in die Luft flog und das Haus in Brand setzte. „Methamphetamin war ein großes Problem hier“, sagt er. „Aber innerhalb von sechs Monaten hatte jeder in der Drogen-Community nur noch Heroin. Das war so etwa Ende 2015. Jeder hatte Heroin.“

Felt kämpft an vorderster Front gegen eine der schlimmsten Opioid-Krisen, die die USA je gesehen haben. Zur Gruppe der Opioide zählen neben Heroin auch Mittel, die als Medikamente eingesetzt werden. Präsident Donald Trump erwägt, wegen der dramatischen Ausmaße nun den nationalen Notstand zu erklären.

Der Polizist gehört zu einer Sondereinheit, die sich in Ashtabula County um Drogenkriminalität kümmert, einem Bezirk am Eriesee mit knapp 99.000 Menschen. Fast täglich haben der 46-Jährige und seine Kollegen es mit einer Heroinüberdosis zu tun. 270 waren es in diesem Jahr schon, 29 davon endeten tödlich. In anderen Gegenden sind es noch mehr. Jedes Mal, wenn wieder jemand irgendwo gefunden wurde, bekommt Felt eine Textnachricht auf sein Handy. Wenn Tote darunter sind, fährt er selbst raus.

Seit 18 Jahren ist er Polizist, vorher war er in der Armee, während der Achtziger war er in Deutschland stationiert. Der 46-Jährige hat die Haare zu einem Bürstenschnitt geschoren, den linken Arm ziert ein Drachentattoo. Er neigt nicht zu Übertreibungen, er wählt seine Worte mit Bedacht. Aber das, was gerade in Ashtabula passiert, frustriert ihn sichtlich.

Felt fährt durch die Straßen der 18.000-Einwohner-Stadt, er zeigt auf Wohnhäuser und Geschäfte, er spricht über Durchsuchungen und Tote und fast immer hat es mit Heroin zu tun. Die Tankstelle, in der Dealer auf Kunden warten. Der McDonalds gegenüber, auf dessen Parkplatz sich die Abhängigen zurückziehen, um sich die Droge sofort zu spritzen. Die Bücherei, vor der abends nun immer eine Streife parkt, weil es dort zu so vielen Überdosen kam. Das Apartment, in der sie eine Frau fanden, die schon einen Tag tot war. Ihr Baby lag im Bett.

Manchmal, wenn Felt und seine Kollegen Häuser durchsuchen, können sie sich kaum bewegen, so vermüllt ist es. Er erzählt von zwei Kindern, sechs und elf Jahre alt, die mit im Haus waren, als der Vater Heroin verkaufte. „Wir haben bei ihnen einen Drogentest machen lassen, um auszuschließen, dass sie nicht unwissentlich Heroin genommen haben.“

Es ist das hässliche Gesicht einer Epidemie, die von New Hampshire über Ohio bis nach Kentucky ganze Landstriche fest in ihrem Griff hat und jeden Tag im Schnitt 91 Opfer fordert. Im Jahr 2015 starben nach Angaben der Gesundheitsbehörde CDC rund 52.000 Menschen an einer Überdosis Drogen. Rund 33.000 von ihnen hatten Opioide eingenommen, bei knapp 13.000 von ihnen war es Heroin. Zum Vergleich: In Deutschland gab es 2015 insgesamt 1226 Drogentote. In den USA leben zwar fast viermal so viele Menschen wie in Deutschland, die Todeszahlen sind in den Vereinigten Staaten aber mehr als 40 Mal so hoch.

Die Krise kennt keine sozialen Grenzen, kein Alter, keine Postleitzahlen. Die, die gegen sie ankämpfen, sagen, dass so ziemlich alle Teile der Gesellschaft betroffen sind. Schätzungen zufolge sind in den USA zwei Millionen Menschen abhängig von Opioiden. Besonders schlimm ist es in strukturschwachen Regionen im Rust Belt oder den Apalachen. Arme Gegenden, die für den Abstieg der Mittelschicht stehen. Gegenden, in denen Donald Trump viele Anhänger fand.

Es ist eine Katastrophe in drei Akten. Erst waren es die Schmerzmittel wie Oxycodon oder Hydrocodon, dann kam das Heroin, seit einiger Zeit sind es starke synthetische Mittel wie Fentanyl oder Carfentanyl, die für etliche Todesfälle verantwortlich sind.

Viele der Abhängigen sind über Oxycodon oder andere verschreibungspflichtige Medikamente in die Sucht gerutscht. Die Mittel sind vom chemischen Aufbau her eng mit Heroin verwandt. Seit den Neunzigern wurden sie in den USA sehr freizügig verschrieben. Nicht nur nach schweren Operationen, sondern zum Beispiel schon bei Knieschmerzen. Studien hatten Hinweise geliefert, dass die
Suchtgefahr gar nicht so groß sei. Das ist inzwischen widerlegt.

Eine der vielen traurigen Seltsamkeiten dieser Geschichte ist, dass viele Süchtige auf Heroin umgestiegen sind, weil es schlicht oft der billigere Weg in die selig dumpfe Wattewelt des Opioid-Rausches ist. Während eine einzelne Oxy-Pille auf dem Schwarzmarkt schon mal 50 Dollar kosten kann, gibt es die Dosis Heroin schon für 10 oder 20 Dollar.

In manchen Gegenden ist es so schlimm, dass die Behörden ungewöhnliche Wege beschreiten. Wie in Canton in Ohio, wo der örtliche Gerichtsmediziner im März einen Kühltransporter anmieten musste. Es hatte zu viele Tote auf einmal gegeben, die Hälfte von ihnen war an einer Überdosis gestorben. Oder die Bücherei in Philadelphia, wo die Bibliothekare darin geschult werden, wie sie
einem Bewusstlosen das Gegenmittel Naloxon verabreichen.

Bei einer Opioid-Überdosis verlangsamt sich der Atem so sehr, dass nicht mehr genügend Sauerstoff ins Gehirn kommt. Es kann zum Atemstillstand kommen. Naloxon, das in den USA weitläufig unter seinem Markennamen Narcan bekannt ist, blockiert die entsprechenden Rezeptoren im Gehirn, so dass die Wirkung des Opioids aussetzt.

Innerhalb von Sekunden kann das Mittel Leben retten, aber es ist umstritten. Manche Sheriffs wollen nicht, dass ihre Leute es bei sich tragen. Weil sie finden, dass das nicht die Aufgabe der Polizisten sei. Oder weil sie um ihre Sicherheit fürchten.

William Felt hat immer eine Dosis Narcan in seiner Tasche. Einmal, im April oder Mai, habe er einer Frau auf dem Parkplatz der Bücherei so das Leben gerettet, erzählt er. Sie lag auf dem Rücksitz ihres Autos, die Türen standen offen. Am helllichten Tage, das kommt öfter vor, gehört in Städten wie Ashtabula inzwischen zum Alltag. „Wir finden sie in Höfen, in Autos, in Restaurants. Meistens überdosieren die Menschen in Toiletten, sei es bei jemandem Zuhause oder in einem öffentlichen Gebäude“, sagt der Polizist. Überall dort, wo es kostenloses WLAN gibt, sei es besonders schlimm. Weil die Süchtigen von dort ihre Dealer anrufen könnten, ohne Telefonkosten zu haben.

An einem Tag Ende September hatten sie in Ashtabula County 16 Überdosis-Fälle, am nächsten Tag noch einmal zwei. Dann nahmen sie eine Dealerin hoch, sie hatte mit Fentanyl gemischtes Heroin verkauft. Das synthetische Opioid ist etwa hundert Mal so stark wie Morphin, deshalb ist die Gefahr einer Überdosierung so viel größer. Es wird als Schmerzmittel etwa für Krebspatienten und bei Narkosen verwendet, findet sich auf Schmerzpflastern. Aber die vielen Missbrauchsfälle haben mit illegal hergestelltem Fentanyl zu tun, das aus China oder Mexiko in die USA kommt, oft über den Postweg.

Noch größeres Kopfzerbrechen bereitet den Sicherheitsbehörden seit einiger Zeit Caryfentanyl, ein Mittel, das ursprünglich entwickelt wurde, um Elefanten und andere große Tiere zu betäuben. Es ist noch einmal 100 Mal stärker als Fentanyl. Schon eine winzige Menge kann tödlich sein. Schon die Berührung ist gefährlich.

In Akron, das eineinhalb Autostunden südwestlich von Ashtabula liegt, können sie sich noch genau daran erinnern, wann sie die ersten Fälle mit Carfentanyl hatten. Rund um den 4. Juli 2016 sei das gewesen, dem Unabhängigkeitstag, sagt Gerald Craig. Plötzlich sei die Zahl der Überdosis-Fälle rasant gestiegen. Craig ist Geschäftsführer des ADM Board, einer Organisation, die Therapieeinrichtungen unterstützt.

Zwischen dem 5. und dem 26. Juli zählten Rettungskräfte in Akron mindestens 236 Überdosis-Fälle, die mit Carfentanyl zu tun hatten. Davon waren 14 tödlich. Zum Vergleich: In den ersten sechs Monaten des Jahres hatten sie insgesamt 320 Fälle.

Im Süden der rund 197.000 Einwohner zählenden Stadt liegt eine Strafanstalt für Frauen, die auf Abhängige spezialisiert ist. Sie
sollen hier lernen, wieder ins Leben zu finden. Sich um ihre Kinder zu kümmern, eine Wohnung zu finden, von den Drogen wegzukommen.

Nicht immer klappt das, es gibt Rückfälle, manche Frauen kommen ein zweites Mal her. „Man denkt dann schon, dass es natürlich scheiße ist, dass sie wieder da sind“, sagt Jennifer Cross, die Leiterin des Programms. „Aber ich denke dann auch oft, Gott sei dank, hier drinnen in unserer Obhut sind sie wenigstens sicher.“

Reba McCray hat die Sucht hinter sich gelassen. Fast ihr ganzes Leben lang sei sie von Opioiden abhängig gewesen, zuletzt von Heroin, erzählt die 54-Jährige aus Akron. Seit neun Jahren ist sie runter davon, seit dem 24. September 2008. Das Datum weiß sie auswendig. McCray ist inzwischen Direktorin der Therapieeinrichtung, die ihr einst selbst half. Aber wenn sie von sich selbst spricht, dann sagt sie, sie sei immer noch «in recovery», im Prozess der Heilung.

Als sie vor einiger Zeit operiert worden sei, habe ihr der Arzt Schmerzmittel verschrieben. „Ich habe die Tabletten drei Tage lang genommen. Am dritten Tag habe ich nach drei Stunden gedacht: Kann ich die nächste nehmen? Danach habe ich sie weggeschmissen. Es hat mich ein bisschen verrückt gemacht.“

Der Bundesstaat Ohio hat vor kurzem neue Richtlinien zur Verschreibung von opioidhaltigen Medikamenten erlassen. Bei akuten Schmerzen dürfen diese nun nicht länger als sieben Tage verschrieben werden. Das sei ein richtiger Schritt, er komme aber zu spät, sagen manche Beobachter.

Und so kämpfen Menschen wie William Felt weiter gegen die Krise. In Ashtabula ist es inzwischen Abend geworden. Der Polizist passiert ein heruntergekommenes Motel. Das Gebäude wirkt verwaist, an einem Pfosten lehnt ein Fahrrad. „Das ist wahrscheinlich von einem Drogenkäufer.“ Er fährt an einer Autowaschanlage vorbei, im Eingang parken zwei Wagen. „Ein Drogen-Deal. Die sind nicht hier, um ihre Autos zu waschen.“

Felt fährt nach Hause. Sein Handy bleibt stumm. Ein Tag ohne Überdosis.

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