Interview

„Ketten beeinflussen Entscheidungsfreiheit“ Patrick Hollstein, 01.09.2008 15:51 Uhr

Berlin - 

Nachdem der Fall Norwegen lange Zeit im Zentrum der Diskussion um die Folgen einer Liberalisierung des Apothekenmarktes stand, verweisen deren Befürworter neuerdings auf die Strukturen in Großbritannien. Doch auch im Königreich werden mahnende Stimmen laut. APOTHEKE ADHOC sprach mit John Murphy, Vorsitzender der Apothekengewerkschaft „Pharmacists' Defence Association“, der 13.500 Mitglieder angehören - die Hälfte aller in britischen Apotheken angestellten Pharmazeuten.

ADHOC: Herr Murphy, Sie kritisieren einige aktuelle Entwicklungen im britischen Apothekenwesen. Was stört Sie?
Die Regierung will, dass die Apotheken eine Reihe zusätzlicher Aufgaben übernehmen, zum Beispiel Raucherentwöhnung, Vorsorgeuntersuchungen oder Medikationsanalysen. Das ist im Grunde ein vernünftiger Ansatz, den wir unterstützen. Wenn sich aber ohnehin überarbeitete Apotheker ohne zusätzliche Mittel neuen Tätigkeitsfeldern widmen müssen, droht ihre eigentliche Verantwortung für die Arzneimittelabgabe auf der Strecke zu bleiben. Die Lücke mit weniger qualifiziertem Personal zu schließen, kann nicht die Antwort sein, und wir warnen davor, dass die Apotheken ihre Patienten einem zunehmenden Gesundheitsrisiko aussetzen.

ADHOC: Wo liegt das Problem?
Eine Medikationsprüfung (Medication Usage Review, MUR) dauert bei korrekter Durchführung normalerweise bis zu 30 Minuten und soll nur dann durchgeführt werden, wenn der Apotheker sie für notwendig erachtet. Da diese Tätigkeiten jedoch zusätzlich abgerechnet werden, drängen die großen Ketten ihre Angestellten, die Höchstzahl an MURs bis zur Erstattungsgrenze durchzuführen, ob der Patient sie will oder nicht. Eine professionelle Beurteilung kann durch den Druck, bestimmte Vorgaben zu erfüllen, beeinträchtigt werden.

ADHOC: Müssen denn die Apotheker solche Zusatzservices anbieten?
Bedenken Sie, dass unser Berufsstand von großen Akteuren dominiert wird, die ihre Aktionäre und Eigentümer zufrieden stellen müssen. Nur noch rund 10 Prozent aller Apotheken in Großbritannien sind im Besitz eines einzelnen Apothekers, alle anderen Pharmazeuten sind Angestellte in kleineren oder größeren Ketten. Sie sind keineswegs so frei in ihrer pharmazeutischen Entscheidungsfindung, wie gerne behauptet wird.

ADHOC: Was bedeutet das für die Apothekenmitarbeiter?
Wir wissen von vielen Fällen, in denen eine bestimmte Anzahl an Reviews pro Monat, pro Woche oder sogar pro Tag vorgegeben wird. Erreichen die Mitarbeiter die Quote nicht, beginnen disziplinarische Maßnahmen. Wir wissen sogar von einem Fall, in dem ein Filialleiter darauf bestanden hat, MURs unter den eigenen Mitarbeitern durchzuführen, obwohl einige von denen gar nicht wollen, dass ihr Vorgesetzter weiß, welche Medikamente sie nehmen.

ADHOC: Wo bleibt denn die pharmazeutische Entscheidungsfreiheit?
Die Kommerzialisierung beeinflusst massiv die professionelle Entscheidungsfreiheit - umso mehr, je größer die Kette ist. Ich sage immer: Je weiter weg von der Apotheke Entscheidungen getroffen werden, desto größer ist der wirtschaftliche Druck auf die Angestellten. Das kann nicht nur ungünstige Auswirkungen für die Angestellten haben, sondern auch für die Verbraucher.

ADHOC: Was kann der Staat dagegen tun?
Der Staat ist Teil des Systems: Wir haben mit dem Nationalen Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS) ein Nachfragemonopol. Die Preise werden diktiert; so sinkt beispielsweise das Abgabehonorar pro Verordnung, obwohl alleine im vergangenen Jahr die Menge um 4 Prozent angestiegen ist. Die Konzerne versuchen daher natürlich Kosten einzusparen, um ihre Profitabilität zu erhalten, was dazu führt, dass die Arbeitsbelastung steigt und Personal reduziert wird. Wir machen uns ernsthafte Sorgen, wie weit die Belastungen für die Angestellten in den Apotheken noch gehen können.

ADHOC: Was wäre die Lösung des Problems?
Unser Berufsstand ist schon immer durch die Apothekeneigentümer dominiert, und da die Ketten immer größer werden, gibt es immer weniger Player mit immer mehr Macht. Wir fordern, dass die Arbeitgeber ihre Apotheker einbinden, wenn es darum geht, Leistungen anzubieten, oder gar die Struktur der NHS-Verträge dahingehend zu reformieren, dass die Apotheker eigene Verträge für verschiedene Leistungen erhalten.
Um unseren Anspruch geltend machen und auf die Gefahren für Angestellte und Verbraucher hinweisen zu können, brauchen wir kurzfristig erst einmal harte Fakten. Deshalb haben wir eine Umfrage unter unseren Mitgliedern gestartet. Wir wollen der Öffentlichkeit aufzeigen, dass die Arbeitsbelastung in Apotheken ein ernstes Problem ist, das nicht nur die Apotheker, sondern auch die Verbraucher betrifft.