Apotheke ohne HV-Tisch

Hostessen, Sitzecken und gläserner Rowa

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Berlin -

Großzügige Räume mit viel Platz zwischen den Regalen, sodass auch ein Einkauf mit Rollstuhl oder Kinderwagen problemlos möglich ist. Links ein Sitzbereich in Lila-Tönen mit mehreren Sitzgruppen, die zum Verweilen einladen. In der Mitte des Raumes dann das Highlight und das Herzstück der neuen Apotheke im schweizerischen Erlinsbach: Ein Kommissionierer, der zur Hälfte in den Boden eingelassen und damit für die Kunden sichtbar ist. Den klassischen HV-Tisch sucht man in dieser Apotheke dagegen vergeblich.

In der Erlinsbacher Apotheke erwartet die Kunden ein innovatives Apotheken-Konzept. „In Zeiten der Digitalisierung und Individualisierung ist das Konzept des Point of Sale (POS) etwas Antikes“, ist Fabian Vaucher überzeugt. Der Apotheker ist nicht nur Chef der Firma, die die Erlinsbacher Apotheke betreibt, sondern auch Präsident des Apothekerverbands Pharmasuisse. „POS ist eine limitierende Struktur, eine kommunikative Barriere zwischen Patienten und Apotheker und damit kundenunfreundlich.“

Ganz anders stelle es sich beim Konzept des „Point of Meeting & Mobilty Experience“ (POMM) dar, das in der Erlinsbacher Apotheke, die zur Apothekenkooperation Toppharm gehört, verfolgt wird. „Ich muss den Kunden inspirieren“, betont Vaucher. „Das individuelle Erlebnis Apotheke für jeden Kunden rückt hier verstärkt in der Vordergrund.“ Das geht aus seiner Sicht am POS kaum. Denn so könne sich der Kunde nicht wirklich frei bewegen und damit auch nicht erleben.

„Unsere Kunden werden etwa in der Mitte des Raumes von einem Mitarbeiter empfangen und begrüßt“, erläutert Monika Wilders, Geschäftsführerin der Erlinsbacher Apotheke. „Ab diesem Moment wird der Kunden begleitet und beraten.“ Die Apothekerin hat 17 Jahre lang in einer klassischen Apotheke gearbeitet und soll in fünf bis zehn Jahren die Erlinsbacher Apotheke übernehmen. Es gibt einen Koordinator, der den Überblick behält und die Patienten an die Kollegen delegiert. Die Kommunikation zwischen den Mitarbeitern erfolgt über Telefone mithilfe einer IT-gestützten Lösung.

Ihre Apotheke soll bewusst keine sein, in der es zackzack gehen muss. Wilders nimmt sich gerne Zeit für Beratungen: „Nur einfach Schubladen öffnen und Medikamente rüberschieben – das entspricht nicht meiner Philosophie. Ich sehe mich als Coach, der dem Patienten hilft, das vom Arzt definierte Therapieziel zu erreichen“, erläutert sie. Deshalb hat man die rund 250 Quadratmeter großen Räume in zwei Bereiche aufgeteilt: den Produkt- und Dienstleistungsbereich.

In dem einem finden sich Regale mit zahlreichen Produkten. Die meisten Gespräche und Beratungen finden aber in den Beratungsnischen statt, wo die Mitarbeiter – mit Laptops ausgerüstet – die Medikation mit den Kunden eingehend besprechen können, bevor dann der Kommissionierer in der Mitte des Raumes das gewünschte Arzneimittel ausspuckt. Die Gemütlichkeit kommt an: „Wir hatten schon Patienten, die nach dem Beratungsgespräch sitzen geblieben sind oder nach einem Kaffee gefragt haben“, berichtet Wilders. „Den Zeitdruck, den einige Kunden mitbringen, vergessen viele dann.“ Zudem gibt es abschließbare Beratungsräume, in die sich das pharmazeutische Personal mit den Kunden bei Bedarf zurückziehen können.

Das neue Konzept führt auch zu neuen Prozessen. „In einer klassischen Apotheke wartet der Apotheker hinter dem HV-Tisch, bis die Patienten zu ihm kommen“, erläutert Vaucher. „Bei uns sind die Mitarbeiter im Raum unterwegs, achten auf die Signale der Kunden und holen sie dort ab, wo sie gerade sind.“ So würden diese Begegnungen sehr individuell und persönlich. Das erfordert aber nicht nur bei den Kunden, sondern auch bei den Mitarbeitern ein Umdenken. „Schon im Bewerbungsgespräch haben wir deshalb darauf geachtet, dass wir kommunikationsstarke und offene Menschen auswählen“, berichtet Wilders, die zunächst ein Team von fünf Mitarbeitern führt. „Und dennoch: Auch wenn es insgesamt schon ganz gut funktioniert, fallen sie immer wieder in alte Verhaltensmuster zurück.“

Wilders’ Apotheke ist außerdem zugelassen als sogenannte „Netcare“-Apotheke. Bei diesem System können sich Kunden mit bestimmten, einfach zu behandelnden Erkrankungen direkt an die Apotheke wenden. Klassiker sind laut Wilders beispielsweise Blasen-, Bindehaut- oder Rachenentzündungen. Falls nötig, kann telefonisch Rücksprache mit einem Arzt erfolgen. „Wir machen nur selber, was wir auch verantworten können. Komplexere Fälle gehören nach wie vor zum Hausarzt oder ins Spital“, sagt die Apothekerin. Auch Vaucher versichert, dass man keine Konkurrenz für die Arztpraxen vor Ort sein will. Netcare-Versorgung sei eine Art „Lückenbüßer“ und subsidiär zur ärztlichen Versorgung vor Ort.

Angeboten werden auch außerdem diverse Dienstleistungen, wie Allergie- und Lungenfunktionstests sowie zahlreiche Gesundheitschecks. Sie alle sind für die Patienten kostenpflichtig. Das sei in der Schweiz aber in der Regel kein Problem, sagt Wilders. Denn die Versicherungstarife beinhalten häufig einen Selbstbehalt von mehreren Hundert Franken. Die Schweizer sind also durchaus gewohnt, für Gesundheitsdienstleistungen ihre Geldbeutel zu zücken. „Wir Apotheker müssen endlich die Angst davor verlieren, für unsere Dienstleistungen bezahlen zu lassen“, betont die Apothekerin. Künftig soll die Apotheke zudem das Medikationsmanagement für den ambulanten Pflegedienst Spitex übernehmen. Auch mit dem örtlichen Altenheim laufen derzeit Kooperationsverhandlungen.

Eine moderne und innovative Apotheke in einer ländlichen Region statt in der Fußgängerzone einer Großstadt? Was auf den ersten Blick verwundern mag, sei kein Zufall, sagt Vaucher: „Die Lage auf dem Land hat auch ihre Vorteile.“ Da wäre beispielsweise die vergleichsweise günstige Miete, was bei der hohen Quadratmeterzahl Einiges ausmacht. Auch sei die Apothekendichte und damit der Konkurrenzdruck nicht so hoch. „So können wir relativ risikoarm experimentieren, ob das neue Konzept funktioniert und bei den Kunden ankommt“, erläutert Vaucher.

Dennoch wurde allein in den Innenausbau der Apotheke samt Medikamentenlager nach Angaben von Wilders etwa eine Million Franken investiert. Hinzu kommen noch die Bauarbeiten am Gebäude, die durch den Vermieter finanziert wurden. Auch Gemeinde Erlinsbach soll einen stolzen Betrag von rund 350.000 Franken in die Neugestaltung des Platzes vor dem Gebäude investieren. Zwar sieht es vor dem neuen „Zentrum Rössli“, wie das Areal genannt wird, noch deutlich nach Baustelle aus, doch in wenigen Monaten soll eine Art Begegnungsplatz entstehen, der die Menschen zum Verweilen einlädt. „Das wird ein fantastischer Platz“, schwärmt Wilders schon jetzt.

In der Schweiz gibt es laut Vaucher einige Apotheken, die immer wieder neue Konzepte ausprobieren. „Der Markt ist in der Schweiz liberal gestaltet“, sagt der Pharmasuisse-Chef. „Deshalb müssen sich Apotheken immer wieder neu erfinden, um am Markt zu bestehen.“ Gerade im Kanton Aargau, in dem sich Erlinsbach befindet und keine Medikamentenabgabe durch Ärzte erlaubt ist, müssten Apotheker immer wieder beweisen, dass sie die Arzneimittelversorgung der Bevölkerung angemessen sicherstellen können.

„Wir sind aber auch insgesamt als Branche zur Innovation verdammt“, sagt Vaucher. Und der Zeitpunkt sei dafür gut: Der Wirtschaft und den Menschen gehe es gut. „Heute haben wir das Kapital, um das zu organisieren und etwas Neues auszuprobieren“, betont Vaucher. Schon morgen könne es ganz anders aussehen.

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