„Spahn lässt es bis zur Wahl laufen“

Seyfarth: E-Rezept muss später kommen Alexander Müller, 05.08.2021 11:25 Uhr

Der Vorsitzende des Hessischen Apothekerverbands (HAV), Holger Seyfarth, spricht sich für eine Übergangsfrist zur Einführung des E-Rezepts aus. Foto: HAV
Berlin - 

Wenig Zeit bleibt bis zur geplanten bundesweiten Einführung des E-Rezepts. In weniger als fünf Monaten soll die digitale Verordnung verpflichtend sein. Doch der Widerstand gegen diesen Zeitplan wird immer breiter: Die Ärzteschaft protestiert, IT-Experten sprechen von einem Himmelfahrtskommando. Jetzt werden auch im Deutschen Apothekerverband (DAV) Stimmen laut, die eine Verschiebung fordern.

„Ich sehe nicht, dass das E-Rezept am 1. Januar flächendeckend zum Roll-out kommt“, sagt Holger Seyfarth, Vorsitzender des Hessischen Apothekerverbands (HAV). Es seien noch so viele Fragen zu klären, die Zeit bis zum Jahreswechsel sei einfach zu knapp. „Bei so einem wichtigen Thema sollte man lieber drei Probeläufe mehr machen, mit regionalen Tests absichern, und zwar mit viel größeren Fallzahlen“, so das DAV-Vorstandsmitglied. Immerhin gehe es um die Arzneimittelversorgung.

Für Seyfarth ist nur eine Sache entscheidend: „Es muss sicher sein – so sicher es eben geht“, sagt der HAV-Vorsitzende. Er fordert, dass es zunächst einen Parallelbetrieb gibt und eine Übergangsfrist von einem Jahr. Es müsse eine Fallback-Lösung geben mit dem Papierrezept, falls es mit der digitalen Verordnung nicht klappt.

Der HAV-Vorsitzende erwartet, dass sich die Debatte um die Einführung des E-Rezepts nach der Bundestagswahl in diese Richtung drehen wird. Vor dem 26. September wird Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) das Thema aber nach seiner Einschätzung nicht mehr anfassen, immerhin zählte die Digitalisierung des Gesundheitswesens vor Corona zu seinen wichtigsten Vorhaben. „Minister Spahn lässt es bis zur Wahl laufen – egal was bei dem Modellprojekt herauskommt.“ Und das Projekt in Berlin köchelt nach wie vor auf sehr kleiner Flamme, wie die Beteiligten selbst äußern.

Seyfarth und andere Kollegen aus den Landesorganisationen würden sich bei dem Thema insgesamt mehr Transparenz und eine bessere Kommunikation ihrer Berliner Standesvertretung wünschen. Der DAV hat sich auf Nachfrage noch nicht zu der Forderung nach einer Verschiebung des Stichtags geäußert. Bislang hieß es stets nur, die Apotheken seien „E-Rezept-ready“.

Tatsächlich haben die Probleme mit den Impfzertifikaten gezeigt, wie viele Lücken noch zu schließen sind. Noch immer sind 5 bis 10 Prozent der Apotheken nicht an die Telematikinfrastruktur (TI) angeschlossen. Und die unter Druck erfolgte Umstellung des Zertifikatemoduls auf die TI hat gezeigt, dass in der Praxis immer Detailprobleme auftreten, die nicht zu erwarten waren.

„Noch so ein Desaster wie mit den Impfzertifikaten können wir uns nicht erlauben“, ist auch Seyfarth überzeugt. Aus seiner Sicht war der Imageschaden für die Apotheken beträchtlich, obwohl sie selbst gar keine Schuld traf. Trotzdem ist Desaster mit der Sicherheitslücke im Portal natürlich auch in der Politik wahrgenommen worden. Speziell zu den Impfzertifikaten und allgemein zu allen Fragen der TI-Anbindung sind DAV und Abda derzeit mindestens einmal wöchentlich im Austausch mit dem Bundesgesundheitsministerium (BMG).

Der größte Engpass zum Start des E-Rezepts ist aber nach wie vor die Praxissoftware. Bislang ist nur ein eher kleiner Anbieter überhaupt dazu in der Lage, E-Rezepte auszustellen. Mit Turbomed könnte demnächst wenigstens ein namhaftes Unternehmen dazukommen. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) bezweifelt, dass bis zum 1. Januar alle PVS-Anbieter in der Lage sein werden, die E-Rezept-Module zu integrieren. In dem im Vergleich zu den EDV-Anbietern der Apotheken deutlich kleinteiligeren Markt müssten nach Schätzungen von Beteiligten schon etwa 20 Softwarehäuser der Ärzte bereit sein, um eine signifikante Abdeckung zu erreichen. Der KBV-Chef Dr. Andreas Gassen, hatte sich zuletzt ebenfalls gegen eine überstürzte Digitalisierung ausgesprochen: Die Praxen seien „kein Versuchslabor für die digitalen Wunschvorstellungen der Politik“.

Und das letzte Argument gegen den derzeit geplanten Stichtag: Der 1. Januar ist insgesamt ein extrem ungünstiger Termin. In den Apotheken und Praxen herrscht auch aufgrund der Feiertage und Ferien ohnehin Ausnahmezustand, zudem treten zum Jahreswechsel regelmäßig noch andere gesetzliche Änderungen in Kraft, die in der Software umgesetzt werden müssen.