Interview mit KBV-Vorstand Dr. Thomas Kriedel

E-Rezept: Auch 2022 nicht in jeder Praxis?

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Berlin -

Erwartet die Apotheken ab dem 1. Januar ein Parallelbetrieb aus E-Rezept und klassischem Muster-16 – und zwar auch bei Arzneimitteln, die dann laut Gesetz eigentlich elektronisch verordnet werden? Das könnte passieren, denn viele Anbieter von Praxisverwaltungssystemen (PVS) werden voraussichtlich bis zum Stichtag nicht in der Lage sein, die E-Rezept-Module zu integrieren, befürchtet Dr. Thomas Kriedel, Vorstandsmitglied der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Nach Rechtsauffassung der Kammer dürfen diese Praxen dann weiter komplett auf Papierrezept verordnen.

ADHOC: Die KBV warnt, dass zum 1. Januar viele Arztpraxen möglicherweise noch keine E-Rezepte ausstellen können. Weshalb?
KRIEDEL: Große Anbieter werden es voraussichtlich schaffen, bis zum 1. Januar die für das E-Rezept notwendigen Anwendungen in ihre PVS zu integrieren. Bei vielen kleineren Anbietern ist das aber längst nicht sicher. Deshalb habe ich große Sorge, ob alle Arztpraxen am 1. Januar in der Lage sein werden, E-Rezepte auszustellen. Da habe ich Zweifel, die durch die bisherigen Erfahrungen genährt werden. Das Entscheidende ist, dass am 1. Januar alle Arztpraxen in der Lage sein müssen, elektronische Verordnungen auszustellen. Wir sind als KBV für 100 Prozent unserer Mitglieder verantwortlich, deshalb können wir nicht sagen, es wäre in Ordnung, wenn manche PVS-Anbieter in der Lage sind und andere nicht.

ADHOC: Warum schaffen es manche PVS-Anbieter eventuell nicht, fristgerecht zu liefern?
KRIEDEL: Die PVS-Anbieter haben gerade erst einen großen Zeitaufwand und wahrscheinlich auch eine Ressourcenumschichtung hingenommen, um die Integration des digitalen Impfnachweises fristgerecht in ihren Systemen umzusetzen. Ob sie es schaffen, fristgerecht die Integration der E-Rezept-Dienste umzusetzen, ist sehr fragwürdig. Ich sage nicht, dass es überhaupt nicht funktionieren wird, sondern dass ich Sorge habe, dass alle es rechtzeitig schaffen. Es gibt rund 120 PVS, aber nur drei Konnektorenanbieter. Da sind also sehr viele Anpassungen nötig. Wenn sich im dritten oder vierten Quartal zeigt, dass relevante Marktplayer nicht fertig werden, dann ist unsere Forderung, dass die Einführung des E-Rezepts verschoben wird. Stand heute gibt es dazu viele ermutigende Aussagen der Gematik, aber in der Praxis sind die noch nicht angekommen.

ADHOC: Haben die Praxen angesichts ihrer momentanen Aufgaben überhaupt die Ressourcen, um sich auf die Einführung des E-Rezepts vorzubereiten?
KRIEDEL: Durch die Impfkampagne sind zahlreiche Praxen im Moment voll ausgelastet und sagen ganz klar, dass sie damit in Ruhe gelassen werden wollen. Es ist nun einmal gerade einfach wichtiger, schnell möglichst viele Menschen gegen Covid-19 zu impfen, als sich um die Einrichtung irgendeines Fachdienstes zu kümmern, den man in ein paar Monaten eventuell mal brauchen wird. Wir fordern deshalb, die Fristen für die elektronische Patientenakte, die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und das elektronische Rezept um ein halbes Jahr nach hinten zu verschieben, damit sich die Praxen auf ihre derzeit wirklich wichtigen Aufgaben konzentrieren können.

ADHOC: Und was passiert, falls ein bestimmter Anteil der Arztpraxen in Deutschland im Januar keine E-Rezepte ausstellen kann?
KRIEDEL: Nach Auffassung der KBV deckt die Störfallregelung auch den Fall ab, dass die Praxissoftware noch nicht bereit für die Ausstellung des E-Rezepts ist. Dann würden die betroffenen Praxen wie bisher für alle Verordnungen das Muster-16-Formular verwenden. Wie hoch deren Anteil an der Gesamtzahl der Arztpraxen ist, lässt sich noch nicht abschätzen. Es wird aber ohnehin weiter vereinzelt Konstellationen und Verordnungskategorien geben, in denen man kein E-Rezept ausstellen kann. Aber das Brot- und Buttergeschäft in der Praxis muss laufen. Die Praxen müssen sich auch auf die Prozesse bei E-Rezepten einstellen können. Es darf nicht passieren, dass die notwendigen Updates erst am 31. Dezember installiert werden. Bei so zentralen versorgungswichtigen Prozessen muss alles einwandfrei funktionieren und dazu muss man sie erproben können. Es gibt viele Konstellationen, die noch nicht ausgetestet wurden und die Erfahrung zeigt, dass solche Prozesse immer sehr komplex sind. Deshalb lege ich auch größten Wert darauf, dass so ein System redundant ist und es Alternativlösungen gibt.

ADHOC: Es wird ja auch Verordnungen geben, die prinzipiell als E-Rezepte ausgestellt werden können, aber nicht von Apotheken bedient werden dürfen. Dann müsste die Apotheke vom Arzt ein gesondertes Muster-16-Rezept nachfordern. Wissen das alle Ärzte?
KRIEDEL: Nein, sicherlich jetzt noch nicht. Wir werden die Ärzte aber rechtzeitig über Sonderfälle informieren. In der Regel wird die Verordnungssoftware verhindern, dass unzulässige Verordnungen ausgestellt werden. Ein Hilfsmittel beispielsweise kann gar nicht strukturiert als E-Rezept verordnet werden.

ADHOC: Ein weiterer Streitpunkt ist die sogenannte Komfortsignatur. Wie ist da der Stand?
KRIEDEL: Wir fordern weiterhin die Komfortsignatur als Conditio sine qua non zur Einführung des E-Rezepts. Die Gematik hat das aufgenommen und sieht sie im Update zum ePA-Konnektor vor. Sie sagt aber auch, dass Anbieter die Funktion nachliefern können, falls sie das nicht bis zum 1. Juli umsetzen können. Da höre ich die Nachtigallen schon trapsen.

ADHOC: Voraussichtlich wird aber erst kurz vor der Einführung des verpflichtenden E-Rezepts klar sein, ob alle Bedingungen erfüllt sind. Wie kann man dieser Situation umgehen?
KRIEDEL: Nach unserer Auffassung sollte nach der Einführung in der Fokusregion eine Auswertung erfolgen und darauf aufbauen entschieden werden, ob der Termin zum 1. Januar überhaupt zu halten ist, bevor wir weitere Schritte gehen. Außerdem fordern wir als KBV, dass alle mit Sanktionen belegten Termine, die davon abhängen, dass die Industrie Produkte liefern muss, ausgesetzt werden, bis die Industrie in der Lage ist zu liefern. Das könnte beispielsweise bei der Frist zur Ausstellung der elektronischen Patientenakte am 1. Juli der Fall sein. Man kann Ärzte nicht dafür sanktionieren, dass sie etwas nicht leisten können, weil ihnen entscheidende Komponenten noch nicht geliefert wurden.

ADHOC: Lohnt sich dieser Aufwand aus Sicht der Ärzte wenigstens? Die meisten von ihnen zeigen bisher keine Euphorie angesichts des E-Rezepts.
KRIEDEL: Die Ärzte sehen das E-Rezept sehr kritisch, weil sie keinen Nutzen davon haben. Die internen Abläufe in den Praxen sind bereits voll digitalisiert. Es geht also nur um die Frage nach der Weiterleitung und da ist – so komisch es klingen mag – Papier ein sehr effizienter Weg. Jetzt wird mit relativ hohem Aufwand etwas nachgebaut, das es längst schon gibt. Und einen Papierausdruck für den Patienten wird es ja trotz E-Rezept weiterhin geben. Einen Mehrwert bieten dabei höchstens die neuen Daten, die von den Ärzten generiert werden. Davon haben die Ärzte aber nichts, genutzt werden sie vor allem von den Apotheken und den Krankenversicherungen. Die Ärzte haben mit dem E-Rezept also einen höheren Aufwand und andere haben die Vorteile.

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