Softwarehaus kann Abrechnung nicht garantieren

ADG warnt Apotheken vor der E-Rezept-Einführung Tobias Lau, 09.12.2021 15:37 Uhr

„Ich würde ein solches Softwareprojekt so nicht in den Markt einführen“: ADG-Geschäftsführer Joachim von Morstein fordert eine längere Testphase für das E-Rezept. Foto: Christof Stache
Berlin - 

Die Nervosität steigt. Nur noch gut drei Wochen, dann soll das E-Rezept gesetzlich verpflichtend eingeführt werden. Von den Standesvertretungen bis zu den Unternehmen wächst der Widerstand auf den letzten Metern noch einmal spürbar an. Hatten die Softwarehäuser bisher versichert, dass es schon gut gehen werde, ist mit ADG nun der erste Warenwirtschaftshersteller auf seine Kunden zugegangen und warnt sie vor der Einführung. Hätten sie die Wahl, sollten sie möglichst auf die Belieferung von E-Rezepten verzichten. Geschäftsführer Joachim von Morstein nimmt kein Blatt vor den Mund.

ADG warnt seine Kunden vor der geplanten E-Rezept-Einführung am 1. Januar. In einem Schreiben, das APOTHEKE ADHOC vorliegt, widerspricht das Softwarehaus der Kommunikationslinie der Gematik: „Nach eingehender Prüfung aller vorliegenden Informationen und den eigenen Praxistests stehen auch wir der geplanten Einführung kritisch gegenüber“, heißt es darin. Die bislang erzielten Ergebnisse seien aus Sicht der beteiligten Systeme und tatsächlich abgewickelten E-Rezepte nicht ausreichend, um eine belastbare Aussage über den erfolgreichen flächendeckenden Einsatz zu treffen. Von den geplanten 1000 E-Rezepten seien gerade einmal 42 eingelöst worden.

Die Zahl hatten die Gematik-Gesellschafter vom Deutschen Apothekerverband (DAV) bis zur Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) bereits vergangene Woche öffentlich gemacht, als sie in einem außergewöhnlichen Vorstoß dagegen rebellierten, dass das Bundesgesundheitsministerium (BMG) die E-Rezept-Einführung gegen den Willen der Spitzenverbände der Leistungserbringer durchgedrückt hat. Gematik und BMG wehrten sich: Zwar sei die geplante Auslastung bei weitem nicht erreicht worden, die bisherigen Tests würden die Funktionsfähigkeit jedoch ausreichend belegen, um an der gesetzlichen Einführung festzuhalten.

Genau hier widerspricht mit ADG nun erstmals auch ein Warenwirtschaftsanbieter öffentlich. „Zudem sind bis heute viele Fragen ungeklärt, die insbesondere die zuverlässige Abrechnung der Leistungen gegenüber den Kostenträgern betreffen“, so ADG. „Damit fehlen essenzielle Grundlagen, um den gesamten Ablauf testen zu können.“

Morstein bestätigt das Schreiben auf Anfrage und findet deutliche Worte: „Es ist eine sehr lange Prozesskette und alle schauen darauf, dass die Ärzte E-Rezepte generieren können. Wir aber schauen natürlich auf unsere Kunden und ob diese Rezepte auch abrechenbar sind. Da mag die Interessenlage der Gematik enden, aber für unsere Kunden ist es extrem wichtig, dass sie ihr Geld bekommen. Da darf es kein Risiko geben.“

Dass es bei der Abrechnung noch hakt, war spätestens im November klar geworden, als bei den sogenannten Konnektathons der Gematik erhebliche Probleme in der fiktiven Abrechnung auftraten. Der Bundesverband Deutscher Apothekensoftwarehäuser (ADAS) und der Bundesverband Deutscher Apothekenrechenzentren (VDARZ) wiesen dahingehende Berichte zwar zurück und beschwichtigten, dass es bis zum 1. Januar funktionieren werde. Kurz darauf erklärte aber auch die Gematik, die Abrechnungsprozesse noch verstärkt testen zu wollen. Offenbar war das aber bisher kein durchschlagender Erfolg. Mittlerweile warnt auch der VDARZ vor Problemen bei der Abrechnung und hat dazu sogar ein Gutachten in Auftrag gegeben.

Entsprechend klar ist die jetzige Ansage von ADG: Die Warenwirtschaft der Phoenix-Tochter sei zwar bereit, das notwendige Programmupdate werde den Kunden zum Jahreswechsel zur Verfügung gestellt. Prinzipiell könnten E-Rezepte also angenommen werden. Aber: „Haben Sie die Wahl, so empfehlen wir Ihnen jedoch, E-Rezepte vorerst nur im Rahmen weiterer Pilotprojekte zu beliefern, bis die Abläufe ausreichend erprobt sind.“ Als aktives Mitglied des Branchenverbands ADAS werde sich ADG „dafür einsetzen, dass unter Mitwirkung aller am E-Rezept beteiligten Marktteilnehmer (Arztsysteme, Apothekensysteme, Rechenzentren und die Gematik) ein für den umfassenden Einsatz ausreichender Feldtest stattfindet“.

Die Schuld liege nicht bei den Softwarehäusern, erklärt von Morstein. „Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht. Aber man darf nicht denken, das wäre erledigt, nur weil Schnittstellen bekannt sind.“ Die Beteiligten müssten schlichtweg ein höheres Testvolumen auf die Beine stellen, um die Kompatibilität der unterschiedlichen Systeme und mögliche Fehlerquellen in den verschiedenen Konstellationen festzustellen und gegebenenfalls zu beheben. „Ich bin seit 20 Jahren in Verantwortung, aber so ein großes Projekt mit so vielen Beteiligten habe ich noch nie gesehen“, sagt von Morstein. „Und das wird von öffentlicher Stelle so schlecht gemanagt, dass es geradezu fahrlässig ist. Es bringt aktuell niemandem einen Nutzen, wenn wir das jetzt so durchprügeln.“

Das Schreiben an die Kunden soll deshalb auch ein Weckruf sein: „Es ist fünf vor zwölf und man muss den Apotheken sagen, dass nicht alles so großartig ist, wie man es ihnen glauben machen will. Ich würde ein solches Softwareprojekt so nicht in den Markt einführen.“ Er betont, dass es ihm wahrlich nicht darum gehe, die Einführung unnötig herauszögern zu wollen. „Wir unterstützen das E-Rezept und halten es für richtig, aber wir wollen das geregelt, geordnet, koordiniert und abgestimmt einführen, damit unsere Kunden sicher sein können, dass sie am Ende nicht die Geschädigten sind. Wir wollen Schaden von den Apotheken abwenden.“

Immerhin ein Trostpflaster für besorgte Apothekeninhaber: Auch ADG glaubt nicht mehr, dass ab dem 1. Januar elektronische Verordnungen in allzu großer Zahl ausgestellt werden. „Es ist jedoch davon auszugehen, dass im neuen Jahr zunächst nur wenige E-Rezepte ausgestellt und überraschend in der Apotheke eintreffen werden“, so das Schreiben.

Grund ist die gesetzlich verankerte Ausfallregelung: Ist ein Praxisverwaltungssystem (PVS) noch nicht in der Lage, E-Rezepte zu generieren, können Ärzte weiterhin Muster-16-Formulare verwenden. Die Kassenärztliche Bundersvereinigung (KBV) hat das bereits in eine Richtlinie überführt. Auch Anbieter von Praxissoftware haben bereits gegenüber ihren Kunden vor dem E-Rezept gewarnt. Laut Gematik dürfte das dennoch keine allzu große Rolle spielen, denn ihr zufolge vereinen die bereits von der KBV zertifizierten PVS-Anbieter einen Marktanteil von 94 Prozent auf sich. ADG gibt trotzdem vorsichtige Entwarnung an die Apotheken: „Ein Großteil der Arztpraxen in Deutschland verfügt nicht über die erforderlichen Systeme.“