GKV-Finanzen

Milliarden-Defizit: Kassenchefs zum Kassensturz bei Spahn Lothar Klein, 11.05.2020 14:31 Uhr

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) trifft sich heute mit den Kassenchefs zum Kassensturz. Foto: Andreas Domma
Berlin - 

Bereits vergangene Woche schlug Gesundheitsökonom Professor Dr. Wolfgang Greiner, der auch Mitglied des Sachverständigenrates des Gesundheitsministeriums ist, Alarm wegen der bevorstehenden Kostenexplosion bei den Krankenkassen nicht nur wegen der Folgen der Corona-Krise. Heute trifft sich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mit den Kassenchefs zum Kassensturz. Ein 14 Milliarden Euro tiefes Loch haben die Kassen ausgerechnet, berichtet der Tagesspiegel. Ein Anstieg der Beträge scheint daher unausweichlich.

Das Treffen werde, wie üblich in diesen Zeiten, nur als Telefonkonferenz stattfinden, berichtet der Tagesspiegel. Über allen Details werde dabei die Grundsatzfrage stehen, ob man jetzt auch noch den Krankenkassen, wo schon alle anderen Branchen nach Steuergeld rufen, durch üppige Zuschüsse aus der Notsituation heraushelfen solle. Oder ob man lieber hinzunehmen bereit sei, „dass die Beiträge durch die Decke gehen“ und die bereits am Boden liegende Wirtschaft durch höhere Lohnnebenkosten noch zusätzlich belastet und am Aufschwung gehindert werde.

Für das Treffen haben die Kassenchefs schon einmal aus ihrer Sicht einen Kassensturz ins Bundesgesundheitsministerium geschickt. „Wir werden dem Minister die dramatische Finanzsituation schildern“, zitiert der Tagesspiegel einen der Beteiligten, „und wir werden vehement höhere Bundeszuschüsse fordern.“ Offenbar erwarten die Kassen in diesem Jahr ein Defizit von mehr als 14 Milliarden Euro. Wenn der Bund nicht mit Steuergeldern einspringt, müsste sich der durchschnittliche Zusatzbeitrag für die Versicherten nahezu verdoppeln: von derzeit 1,1 auf 2,0 bis 2,2 Prozent. Und dabei sei der zu erwartende Corona-Katzenjammer im nächsten Jahr, etwa durch hohe Arbeitslosenzahlen und Nachholeffekte der Krankenhäuser, noch gar nicht eingepreist, berichtet der Tagesspiegel.

Allerdings: Auf welche Zahlen sich der Bericht stützt, ist unklar. Das Papier der Kassen für das Treffen mit Spahn, das APOTHEKE ADHOC vorliegt, enthält keine konkreten Zahlen. Allerdings verweisen die Kassen darauf, dass bis zum Jahresende 2020 die Reserven von gut zehn Milliarden Euro des Gesundheitsfonds leerlaufen könnten. Die Kassen selbst verfügen laut dem Finanzbericht des BMG für 2019 über Rücklagen von knapp 20 Milliarden Euro – diese sind aber nach Kassenarten unterschiedlich verteilt. Die Kassen schlagen vor, den Bundeszuschuss aus Steuermittel zu erhöhen. Derzeit schießt der Bundeshaushalt 14,5 Milliarden Euro zu. Die vom Tagesspiegel bezifferten Kassendefizite werden von anderer Seite als „Glaskugel“-Zahlen eingestuft. Niemand könne derzeit eine realistische Schätzung vornehmen.

Dennoch: Auf 14,1 bis 14,6 Milliarden Euro bezifferten laut Tagesspiegel die Kassen das Finanzloch in ihren internen Hochrechnungen. Interessanterweise schlügen die coronabedingten Zusatzausgaben für diese Schreckenssumme nur wenig zu Buche. Sie würden für 2020 lediglich auf 500 Millionen bis eine Milliarde Euro zusätzlich veranschlagt. Summa summarum allerdings, denn mitverrechnet seien hier gleich auch die enormen Einsparungen durch den anderweitig stark heruntergefahrenen Gesundheitsbetrieb in Kliniken und Arztpraxen.

Allein die Behandlung von Corona-Infizierten in den Kliniken – die Kassen gehen für 2020 von mindestens 200.000 Fällen aus – schlügen für die GKV mit 1,3 Milliarden Euro zu Buche, rechnen die Kassenchefs laut Tagesspiegel vor. Der erhöhte Pflegeentgeltwert für die Kliniken verursache 3,3 Milliarden an Zusatzkosten, der angeordnete Verzicht auf die Prüfung von Krankenhausrechnungen weitere 1,1 bis 1,2 Milliarden. Und bei geschätzten 20 Millionen Corona-Tests bis zum Jahresende entstehen den Kassen Kosten von nochmals 1,6 Milliarden Euro.

Große Sorgen bereiten die Kassen aber auch die Folgekosten der vielen Gesundheitsreformen. Weil der Schätzerkreis bei der Festlegung der Beiträge schon für 2019 zu optimistisch gewesen sei, schleppten die gesetzlichen Versicherer bereits ein Minus von 1,6 Milliarden Euro aus dem Vorjahr herüber. Und 2020 werde es noch deutlich schlimmer. Der für dieses Jahr beschlossene Durchschnitt-Zusatzbeitragssatz von 1,1 Prozent sei „völlig illusionär“ gewesen, sagten Experten. Er hätte um 0,3 Punkte höher liegen müssen. Diese politisch gewollte Schönrechnerei lasse die Kassen nun mit weiteren sechs Milliarden Euro in die Miesen rutschen.

Auch ohne Pandemie wären die Kassen tief in die roten Zahlen gerutscht. Dazu kommt jetzt aber noch ein geschätztes Minus bei den Einnahmen von weiteren sechs Milliarden Euro aufgrund der Coronakrise. Die Beitragsausfälle durch Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit könnten sich auf zwei Milliarden summieren.

Zugrunde liegen dem die Annahme von 2,5 Millionen Kurzarbeitsgeld-Beziehern und 500.000 zusätzlichen Arbeitslosen. Der Rest sind gemutmaßte Folgekosten für die Beitragsstundungen, die zahlreichen Unternehmen und Selbständigen gewährt wurden und werden. Runde zwei Milliarden Euro gingen den gesetzlichen Versicherern dadurch allein in den Lockdown-Monaten März und April durch die Lappen. „Und wie viele dieser Firmen die gestundeten Beiträge niemals zurückzahlen, weil sie vom Markt verschwinden, weiß kein Mensch“, so ein Vorstands-Verantwortlicher laut Tagesspiegel.

Der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Bundestag, Erwin Rüddel, fordert, der erhöhte Finanzierungsbedarfs dürfe „nicht allein den Beitragszahlern überlassen werden, sondern muss durch Steuergelder finanziert werden“. Er könne sich hier „durchaus eine mehrjährige Ausweitung des Bundeszuschusses vorstellen“. Man könnte auch mit notwendiger „Gefahrenabwehr“ argumentieren, die Aufgabe des gesamten Staates und nicht bloß der Beitragszahler sei.