"Konstanz erinnert an Berlin vor dem Mauerfall"

Grenzapotheke abgeschnitten – OTC-Umsatz bricht ein

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Berlin -

Die Menschen in den Grenzregionen der Republik mussten in den vergangenen Wochen eine Situation ertragen, die seit Jahrzehnten überwunden geglaubt war: geschlossene Grenzen. Junge Menschen erleben das zum ersten Mal. Das ist nicht nur mit Blick auf das europäische Zusammenleben ein einschneidendes Ereignis, sondern vor allem im Süden der Republik auch für viele Apotheken ein harter wirtschaftlicher Schlag. Etwa für die Betriebe von Dr. Daniel Hölzle. Seine Tiergarten-Apotheke liegt seit Wochen auf einer Insel: denn die Konstanzer Altstadt wird auf zwei Seiten begrenzt von Rhein und Bodensee, auf den anderen beiden von der Schweizer Grenze.

Es sind bedrückende Bilder aus den südlichsten Regionen Deutschlands: Straßen sind mit Betonblöcken versperrt, Warnbaken weisen darauf hin, dass das Land mitten im Ort zu Ende ist. Viele Übergänge wurden behelfsmäßig mit Bauzäunen verschlossen, die Tagesschau zeigte erst am Mittwoch ein Liebespaar, das sich direkt an der Grenze gegenübersitzt und durch das Metallgitter unterhält. „Das ist die Realität, da gehe ich jeden Tag dran vorbei“, sagt Hölzle. Durch künstliche Grenzen getrennte Paare mögen herzzerreißend sein, gehören aber noch zu den weniger bedrückenden Szenen, die der Inhaber in den vergangenen Wochen zu sehen bekommen hat.

„Konstanz erinnert im Moment ein wenig an Berlin vor dem Mauerfall, die Grenze verläuft mitten durch die Stadt“, sagt er. Insbesondere direkt nach der Schließung vor zwei Monaten habe er „abstruse Szenen“ beobachtet: Schweizer Helikopter sind die Grenzlinie abgeflogen, Grenzbeamte haben sich mit Hubwagen an die improvisierten Sperren gestellt, um den Grenzverlauf aus einer erhöhten Position auszuspähen. „Man hätte auch gleich einen Graben ausheben können. Mit dem Wissen, dass das ein vorübergehendes Szenario ist, habe ich es mit gewissem Amüsement betrachtet“, sagt er – wendet jedoch gleich ein, dass sich das nur auf das teils absurde Verhalten der Behörden bezieht. Für die Einzelhändler in der Konstanzer Altstadt ist die Situation nämlich absolut nicht lustig.

„Bei denen herrscht die blanke Panik“, sagt er. „Vor allem für die kleineren Geschäfte geht es an die Existenz. Da herrscht Angst vor der Ungewissheit, wann es weitergeht und diese Scheibenpolitik bei der Information macht es nicht besser.“ Existenzgefährdend ist die Situation für Hölzles Tiergarten-Apotheke – Luftlinie 500 Meter von der Grenze – nicht. Aber auch ihm machen die Einschränkungen das Leben schwer, sowohl wirtschaftlich als auch organisatorisch.

„Uns sind 180 Grad des Einzugsgebiets abgeschnitten, wir sind also massiv eingeschränkt“, erklärt er. Eigentlich war die formale Insellage vorher ein großes Pfund für die Apotheke: die Schweizer sind im Durchschnitt wohlhabender als die Deutschen und haben eine entsprechend höhere Kaufkraft. In der Schweiz zu leben und in Deutschland einzukaufen war bis vor kurzem eine Selbstverständlichkeit. Insbesondere nach der Freigabe des Schweizer Franken im Jahr 2015 war ihm das zugutegekommen. „Es war ja damals vollkommen überhitzt, die Stadt war komplett voll. Das hat sich bis ins Folgejahr gezogen, aber irgendwann hatten die Leute davon genug“, erinnert er sich. „Als der Franken dann fiel, hat sich aber auch der Preisunterschied angepasst und sich die Situation etwas normalisiert.“ Seitdem sei sie wieder auf dem Stand vor der Freigabe – vor der Coronakrise, versteht sich.

„Was vorher eine positive Auswirkung hatte, schlägt jetzt doppelt auf uns zurück“, sagt Hölzle und meint: Es fehle nicht nur ein großer Teil der Kunden, sondern auch noch der kaufkräftigere. Das sieht er an der Bilanz: „Verschreibungspflichtige Arzneimittel ausgenommen, haben wir in den vergangenen zwei Monaten einen Umsatzeinbruch von 50 Prozent gehabt.“ Dass er den Einbruch nach der Grenzöffnung durch Nachholeffekte zumindest teilweise ausgleichen kann, glaubt er nicht. „Es ist ja eine allgemeine Kaufzurückhaltung zu beobachten und auch im bereits offenen Einzelhandel merkt man ja, dass der Einkauf mit Atemschutz und Sicherheitsmaßnahmen nicht sonderlich attraktiv ist. Das wird sich wohl auch auf uns auswirken.“

Der wirtschaftliche Schaden mag also groß sein, Hölzle betont aber insbesondere auch den menschlichen Schaden. „Wir sind hier so miteinander verwachsen, dass das ein unhaltbarer Zustand ist“, sagt er und berichtet von absurden Situationen: eine deutsche Kleingartenkolonie beispielsweise, die auf Schweizer Territorium liegt – seit zwei Monaten ist sie verwaist. „Ich selbst habe auch Mitarbeiter, die in der Schweiz leben und hier arbeiten, denen musste ich nach der Grenzschließung schnell Formulare ausfüllen und Passierscheine ausstellen, damit sie noch zur Arbeit kommen können.“

Noch umständlicher habe er sich um Kunden kümmern müssen. Denn die Grenzschließung kam für viele überraschend. „Ich hatte noch Vorbestellungen von Kunden hier liegen. Denen musste ich dann ein Schreiben anfertigen, dass sie ihre Arzneimittel abholen müssen und es ihnen per Post schicken, damit sie es den Grenzbeamten vorzeigen können“, sagt er. „Und auf dem Rückweg durften sie dann auch wirklich nur das eine Arzneimittel einführen.“ Organisatorisch sei der Apothekenbetrieb auf jeden Fall schwerer zu handhaben als vor der Schließung erklärt Hölzle. „Dazu kam ja auch die Unsicherheit, weil es gerade am Anfang aller zwei, drei Tage neue Regelungen gab.“

Einen Monat lang soll der Spuk noch anhalten, dann ist die volle Öffnung der Grenze für den 15. Juni geplant. Aber ganz in Sicherheit wiegen will Hölzle sich trotzdem noch nicht. „Es müssen auch beide Seiten mitspielen“, sagt er. „Die Schweiz ist zwar im Schengen-Raum, aber dass sie nicht in der EU ist, macht es etwas schwieriger. Wenn das Schweizer Außenministerium sich umentscheidet, weil beispielsweise die Infektionszahlen wieder steigen, kann die Grenzöffnung auch wieder abgesagt werden. Die haben das letzte Wort.“ Dennoch: Er sei optimistisch. „Bisher sieht alles danach aus, dass die Grenze wieder geöffnet wird.“

Schließlich werde langsam auch immer klarer, dass die Grenzschließung keinen wirklichen Beitrag zur Eindämmung der Pandemie leistet. „Das würde nur Sinn ergeben, wenn die Infektionszahlen auf der einen Seite der Grenze bedeutend höher sind als auf der anderen“, findet er. „Aber die Schweiz hat sich bei den Zahlen stark an Deutschland angenähert, von daher ist es sinnlos.“ Also hofft Hölzle darauf, bald seinen gewohnten Alltag wiederzuhaben – nicht nur in der Apotheke, sondern auch ganz privat. „Ich will meine Stammjoggingstrecke zurück“, sagt er mit nicht ganz ernstem Unterton. „Ich gehe normalerweise abends gegen neun joggen und überquere dabei völlig selbstverständlich die Grenze – da habe ich nicht mal einen Ausweis dabei. Man merkt ja gar nicht, wo die Grenze überhaupt verläuft.“ Es werde Zeit, dass das endlich wieder so ist.

 

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