„Wir waren die letzte Apotheke vor der Mauer“

Oehmichens Apotheke: Goldene Jahre am Todesstreifen

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Berlin -

Freiheit, Einheit, Freudentaumel: Deutschland zelebriert den 30. Jahrestag des Mauerfalls und klopft sich auf die Schulter. Dass es mit der Wiedervereinigung auch für viele Menschen bergab ging, ist vor allem in der ehemaligen DDR Konsens. Aber auch westlich der Mauer wurde für manche nicht alles besser. Volker Hauffe betreibt seit fast 40 Jahren eine Apotheke in der Berliner Brunnenstraße. Bis zur Wiedervereinigung schaute er von der Offizin aus auf die Berliner Mauer. Und so komisch es klingt: Es waren goldene Zeiten für ihn. 

Die Bernauer Straße ist einer jener historischen Orte in Berlin. Fast jeder hat wohl schon einmal die Bilder vom Mauerbau gesehen, die dort geschossen wurden: von verzweifelten Menschen, die sich aus den Fenstern ihrer Wohnungen stürzen – denn die Häuser gehörten zur DDR, die Straße davor bereits zu Westberlin. Eine Ikone deutscher Geschichte ist auch das Foto des jungen DDR-Bereitschaftspolizisten Conrad Schumann, der in einer spontanen Entscheidung seine Maschinepistole wegschmeißt und über eine Stacheldrahtrolle in die Freiheit springt. Nicht zuletzt gingen einige der berühmten Fluchttunnel aus dem Osten in den Westen unter der Bernauer Straße hindurch. Mindestens zehn Menschen verloren bei dem Versuch, aus der sozialistischen Diktatur zu flüchten, an dem Straßenabschnitt ihr Leben.

Die historisch bedeutsamste Stelle der Bernauer Straße ist die Kreuzung mit der Brunnenstraße, an der sich heute die Gedenkstätte Berliner Mauer befindet. Nur 200 Meter die Straße hoch, in der Brunnenstraße 64, liegt Oehmichens Apotheke. Es ist auch heute noch eine dieser typischen Berliner Grenzregionen: Die Straße herunter liegt das hippe Mitte um den Rosenthaler Platz, geht man die Bernauer Straße nach Osten, beginnt nach wenigen Metern der Bionade-Biedermeier des Prenzlauer Bergs und fährt man die Straße hoch, landet man im Wedding, dem letzten Innenstadtviertel, das noch nicht gentrifiziert wurde. Als Volker Hauffe 1982 dort zu arbeiten begann, sah es im Brunnenviertel aber noch ganz anders aus.

Die Gegend passt zu ihm, Hauffe hat selbst eine deutsch-deutsche Biographie: Eigentlich stammt er aus dem Erzgebirge, zog aber mit 16 nach Westberlin. Seine Eltern waren noch kurz vor dem Mauerbau mit ihm geflüchtet. An der Freien Universität – gegründet 1948, weil die Humboldt-Universität von den kommunistischen Machthabern ideologisch auf Linie gebracht wurde – studierte er Pharmazie und begann 1982 in der Brunnenstraße zu arbeiten.

„Das war hier früher eine blühende Gegend“, erinnert sich Hauffe. Denn nach dem Mauerbau entstand ab den 60er Jahren um die Brunnenstraße herum das größte Stadterneuerungsgebiet Europas. Auf mehreren Quadratkilometern wurden Altbauten abgerissen und durch – damals – moderne Betonneubauten ersetzt, die bis heute das Straßenbild prägen. Im Schatten der Mauer entstand ein neues Viertel mit allem, was das Berliner Herz begehrt. „Wir hatten hier Blumenläden, Schreibwarengeschäfte, eine Berliner Bank, Zeitung und Lotto, Supermärkte – da war richtig viel los.“

Mauer und Todesstreifen waren die ganze Zeit in Sichtweite – doch der Standort war nicht trotzdem, sondern gerade deswegen gut für den Betrieb: „Wir waren die letzte Apotheke vor der Mauer, deshalb sind alle Anwohner, die zwischen uns und der Mauer wohnten, zu uns gekommen.“ Sie kamen wortwörtlich gar nicht an ihm vorbei. 1984 übernahm Hauffe die Apotheke, „für sehr viel Geld“, wie er betont. Da hatte er noch etwas mehr als fünf fette Jahre vor sich, bevor er fast über Nacht vom Stadtrand in die Innenstadt verlegt wurde, ohne sich zu bewegen.

„Da ham‘se sich jefreut, dit ’se endlich rüwer konnten“

Am 9. November 1989 fiel die Mauer und plötzlich fand um Hauffes Apotheke herum Weltgeschichte statt. „Erst hieß es, sie kommen jetzt alle rübergeströmt – und dann war bis hoch zur Badstraße alles voll mit Menschen.“ Die Badstraße schließt auf Höhe des Bahnhofs Gesundbrunnen an die Brunnenstraße an, knapp anderthalb Kilometer sind es von der Grenze bis dahin. „Da ham‘se sich jefreut, dit ’se endlich rüwer konnten“, sagt er in besten Berlinerisch. „Das ist ein tolles Gefühl, dass man das miterleben durfte.“ Außerdem bringt es viele neue Kunden, könnte man als Kaufmann meinen. Der Ertrag durch die DDR-Bürger blieb aber vorerst gering. „Die haben erst nicht viel gekauft – die hatten ja kein Geld“, sagt er.

Mit der Wiedervereinigung änderte sich aber auch das – vorerst zumindest. „Eine Zeitlang kamen sie alle rüber und haben hier eingekauft“, erklärt Hauffe. „Ein, zwei Jahre haben wir das wirklich gemerkt, da hatten wir mehr Umsatz.“ Doch schon Anfang der 90er-Jahre verflog die Wiedervereinigungseuphorie. Die Treuhand wickelte einen Betrieb nach dem anderen ab, Millionen Menschen verloren ihre Arbeit, Biographien wurden entwertet. Es gab jetzt Bananen, aber viele konnten sie sich nicht kaufen. Waren 1990 noch 4,1 Millionen Menschen in von der Treuhand verwalteten Betrieben beschäftigt, waren es 1994 noch 1,5 Millionen. Auch hier war Berlin ein Schmelztiegel: Kaum irgendwo stießen beide Welten so aufeinander wie in der kurz zuvor noch geteilten Stadt.

„Anfangs haben sich die Leute gefreut, aber nach und nach wurden sie unzufriedener, das hat man gespürt“, erinnert sich Hauffe an die Zeit. Ursache für die Enttäuschung seien aber auch unrealistische Erwartungen der DDR-Bürger gewesen, findet er. „Die wollten alles immer sofort und hatten keine Geduld.“ Dass auch viele Glücksritter aus dem Westen die mangelnde Erfahrung ihrer neuen Mitbürger ausgenutzt haben und auf deren Kosten einen guten Schnitt machten, sei ihm bewusst, „aber hier in der Straße hat man das nicht gemerkt“.

Was man allerdings gemerkt hat: Dass es zusehends zu Konflikten zwischen alten Westberlinern und neuen Bundesbürgern kam. „Wenn ihr nicht zufrieden seid, ziehen wir die Mauer wieder hoch – aber dieses Mal aus Glas, damit ihr sehen könnt, wie gut es uns geht, und mit einer Banane obendrauf!“ – solche Sprüche habe er des Öfteren gehört, wenn es in der Offizin zu Diskussionen kam. Doch nicht nur mit der Stimmung ging es bergab, auch wirtschaftlich gehört die Badstraße nicht zu den Gewinnern der Wiedervereinigung. Woran das liegt, darüber kann man streiten. Jedenfalls hat sich viel Leben in die nahegelegenen Viertel verlagert. Die Badstraße ist heute eigentlich eher eine Durchgangsstation auf dem Weg vom Wedding nach Mitte.

Die Bernauer Straße ist eine Grenze geblieben

Und das merkt Hauffe. Geschäfte sind nur wenige geblieben, dafür haben in der direkten Nachbarschaft zwei weitere Apotheken eröffnet. Genauso fatal: Die Badstraße gehört schon zu Mitte und damit zum zugehörigen KV-Bezirk. Die meisten Ärzte wanderten deshalb einfach ein paar Kilometer die Straße hinab in Richtung Rosenthaler Platz – mit der dortigen Bevölkerung lässt sich besseres Geld verdienen als im Brunnenviertel. Heute ist der Kontrast denkbar groß: Der nahegelegene Rosenthaler Platz ist einer der teuersten Gegenden Berlins – im Brunnenviertel hingegen beziehen 36 Prozent der Anwohner Transferleistungen. Wohl auch deshalb gibt es dort heute kaum noch Praxen. „Das ganze Brunnenviertel hat nur vier Ärzte“, erklärt Hauffe. „Es gibt hier weder einen Frauen- noch einen Nervenarzt und einen Orthopäden für die alten Leute gibt es auch nicht.“

Dass sich sein Kiez mal so entwickelt, hätte er bei der Wiedervereinigung nicht gedacht. „Ich hatte eigentlich mehr erwartet. Seit dem Mauerfall liegt die Gegend hier am Boden.“ Für ihn sei das deprimierend. Viel Hoffnung, dass es sich bald zum Besseren wendet, habe er nicht. „Vielleicht höre ich auch bald auf, große Lust habe ich nicht mehr. Sollen doch andere darum kämpfen, das hier zu erhalten“, sagt er. Den Ruhestand hätte er sich mit 75 Jahren wahrlich verdient – er kann auf ein nicht ganz leichtes, aber dennoch erfolgreiches Berufsleben zurückblicken: „Das ist schon gut so, wir haben ja einigermaßen gelebt.“

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