BtM-Höchstmengen

Nullretax: DAK muss Gnade beweisen APOTHEKE ADHOC, 12.06.2020 10:54 Uhr

Berlin - 

Krankenkassen dürfen Rezeptfehler auf Null retaxieren – müssen im Zweifel aber gute Gründe haben, warum sie keine Gnade walten lassen. Das hat das Sozialgericht Nordhausen in einem Streit um fehlerhafte Betäubungsmittelrezepte entschieden. Und die Vorgabe des Gerichts geht über unbedeutende Formfehler hinaus.

Im konkreten Fall ging es um eine Apothekerin, die eine Patientin jahrelang mit Palexia versorgte. Im April 2017 flatterte eine Nullretaxation der DAK ins Haus, in der die Kasse bei zwei abgerechneten Verordnungen das fehlende Kennzeichen „A“ für die Überschreitung der Höchstmenge monierte. Noch im Verlauf des Einspruchsverfahrens wurden zwei weitere Rezepte beanstandet, sodass die Apothekerin am Ende auf 2600 Euro sitzen zu bleiben drohte.

Weil die Kasse nicht einlenken wollte, ging der Fall vor Gericht. Im August vergangenen Jahres einigte man sich auf einen Vergleich, den die Kasse dann aber widerrief. So wurde im Februar erneut verhandelt – mit dem möglicherweise richtungsweisenden Urteil verwiesen die Richter den Fall jetzt zur erneuten Prüfung zurück an die Kasse.

Nach Rechtssprechung des Bundessozialgerichts (BSG) haben Apotheken nur dann einen Vergütungsanspruch, wenn „die für die Abgabe von Arzneimitteln allgemein geltenden gesetzlichen und vertraglichen Bestimmungen eingehalten werden“ – also neben den arzneimittel- und apothekenrechtlichen Vorgaben auch die Regelungen von Rahmenvertrag und Liefervertrag. Aus diesem Grund sei – zumindest bislang noch – kein Anspruch auf Vergütung entstanden.

Ausführlich setzen sich die Richter dann mit §3 des Rahmenvertrags auseinander, der 2016 nach langen Verhandlungen eingeführt worden war, um die damals überhand nehmenden Nullretaxationen auf ein vernünftiges Maß zurückzuführen.

Von den vier vorgesehenen Ausnahmen, warum trotz nicht ordnungsgemäßer Verordnung oder Belieferung ein Vergütungsanspruch entstehen kann, kommen laut Sozialgericht im konkreten Fall drei nicht in Betracht:

Weder sei das Problem des fehlenden „A“ bei BtM-Rezepten explizit im Rahmenvertrag aufgeführt, noch habe die Apothekerin die fehlende Angabe nach Rücksprache mit der Ärztin korrigiert. Und auch um einen unbedeutenden Formfehler handele es sich nicht: Immerhin gehe es um BtM-Rezepte, bei denen „zum Schutz der Patienten (Suchtprävention und Vermeidung von Gesundheitsschäden) und auch der Kassen“ zu Recht ein erhöhter Prüfungs- und Sorgfaltsmaßstab seitens der Apotheken erwartet werde. Dies gelte insbesondere bei der Überschreitung der Höchstmenge – die für die Apothekerin erkennbar gewesen sei , wie sich schon aus der vorgelegten Auflistung der seit 2013 eingelösten Rezepte ergebe. Gerade deswegen sei sie auch nicht von ihrer Pflicht zur Rücksprache mit dem Arzt vor der Belieferung entbunden gewesen.

Mit dem letzten Punkt allerdings wurde die Möglichkeiten eingeräumt, dass „die Kasse im Einzelfall entscheidet, die Apotheke trotz eines derartigen Verstoßes ganz oder teilweise zu vergüten“. Zwar gibt es laut Gericht keine Erklärung dazu, in welcher Form und in welchen Fällen eine solche Kulanzentscheidung erfolgen kann oder muss. „Nach der Entstehungsgeschichte und auch dem Sinn und Zweck der Regelung ist diese nach Auffassung der Kammer dahin gehend auszulegen, dass die entsprechende Apotheke – zumindest auf entsprechenden Antrag – einen vertraglichen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Einzelfallentscheidung der Krankenkassen über eine möglicherweise ganz oder teilweise Vergütung trotz eines derartigen Verstoßes hat“, heißt es im Urteil.

Denn gerade mit Blick auf die strenge Rechtssprechung des BSG sollte die Möglichkeit eröffnet werden, im Einzelfall von einer Beanstandung abzusehen, auch wenn die Kasse gemäß vertraglicher Vorgaben dazu berechtigt wäre. In der Vergangenheit hätten sich die Kassen oft auf ihre Aufsichtsbehörden berufen, die es untersagten, auf Retaxationen zu verzichten, wenn kein Vergütungsanspruch entstanden sei. Die Änderung des Rahmenvertrags habe deswegen zum Ziel gehabt, dass Kassen frei entscheiden könnten – dass sie ihre Entscheidung aber auch nachvollziehbar begründen müssten.

Somit hätten Apotheker einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über ihren Kulanzantrag – zwar nicht in Form eines Verwaltungsaktes, aber zumindest in Form einer gerichtlich nachprüfbaren, schriftlichen Entscheidung, so das Gericht.

Ohne eine solche Überprüfungsmöglichkeit stünde es den Kassen frei, „in nahezu willkürlicher Form“ von Retaxationen Abstand zu nehmen. Dies könne von den Vertragspartnern nicht gewollt gewesen sein, zumal die Sachbearbeiter dann wiederum bei einer Entscheidung zugunsten des Apothekers Regresse der Aufsichtsbehörden zu fürchten hätten. „Dieser Zustand sollte aber gerade […] geändert und entschärft werden.“

Im konkreten Fall habe die DAK von ihrem Ermessen gerade keinen Gebrauch gemacht, sondern vielmehr eine entsprechende Entscheidung verweigert. Die Kasse muss den Fall nun neu prüfen und ihre Entscheidung ausführlich begründen. Aus Sicht der Richter kann sich die Kasse nicht darauf berufen, dass es um einen schwerwiegenden Fehler gegangenen sei. Einerseits seien unbedeutende Formfehler bereits explizit abgedeckt, andererseits würde bei einer „Ermessensreduzierung auf Null“ die gesamte Regelung ins Leere laufen.

Die Richter geben der DAK sogar Gründe an die Hand, die sie zugunsten der Apotheke anführen kann: So sei die Patientin bereits seit 2013 durchgängig und nach dem – später – eindeutig bestätigten Willen der Ärztin unter Überschreitung der Höchstmenge versorgt worden. Der Kasse sei auch kein wirtschaftlicher Schaden entstanden und die Patientin sachgemäß behandelt worden. „Auch dies ist von Beklagten im Rahmen ihrer Ermessenentscheidung zu berücksichtigen.“