Rezeptbetrug

Das Geständnis des Rezeptfälscher-Apothekers

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Berlin -

In Berlin steht eine Bande vor Gericht, die über Jahre hinweg die Krankenkassen mit gefälschten Rezepten für teure Rx-Medikamente betrogen haben soll. 2,5 Millionen Euro sollen die Apotheker und ihre Komplizen so erbeutet haben. Bisher geben sich alle Angeklagten geständig und reumütig. Trotzdem gibt es große Zweifel, dass sie die ganze Wahrheit erzählen.

Klaus H. kämpft mit den Tränen, als er seine Geschichte vorträgt, immer wieder versagt seine Stimme. Seine Erzählung erinnert fast an die Kultserie „Breaking Bad“: Ein Mann in den besten Jahren steht vor den Scherben seiner Existenz. Als ihm ein zwielichtiges Angebot gemacht wird, sieht er keine andere Möglichkeit mehr, als das wirtschaftliche Überleben seiner Familie durch illegale Geschäfte zu retten.

So gerät er in eine Spirale aus organisierter Kriminalität, die sich immer weiter dreht. Am Ende engagiert seine Lebensgefährtin sogar zwei tschetschenische Schläger, die einem in Ungnade gefallenen Komplizen die Beine brechen sollen. Doch die Polizei ist beiden auf den Fersen, sie setzen sich ab nach Bulgarien. Als sie im Juli kurz nach Berlin zurückkehren, werden sie im Estrel-Hotel in Treptow festgenommen und landen im Gefängnis – wo sie heute noch sitzen.

2010 habe er seine letzte Apotheke „verloren“, erzählt der Angeklagte. Er habe sie verkauft, weil er geglaubt habe, dass es ohne das arbeitsintensive und wenig rentable Geschäft besser laufen würde. Doch das tat es nicht. 2013 kommen dann noch zwei Schicksalsschläge hinzu: Das gemeinsame Kind erkrankt und seine Lebensgefährtin hat ebenfalls mit schweren gesundheitlichen Problemen zu kämpfen.

Zu dieser Zeit sei der Mitangeklagte Edin S. an ihn herangetreten. Er habe da zwei Packungen Psychopharmaka von echten Rezepten übrig und wolle fragen, ob er die nicht irgendwie unter der Hand für ihn absetzen kann. Damit sei der Stein ins Rollen gekommen.

Klaus H. – halblange, weiße Haare, sanfte Gesichtszüge und weiche Stimme – wirkt fahrig, gelegentlich verliert er den Faden, wenn er erzählt. Er zeigt sich als gebrochener Mann, der keine andere Möglichkeit mehr sah, die Existenz seiner Familie zu retten, als sich auf das gefährliche Spiel mit dem Millionenbetrug einzulassen, und der das nun zutiefst bereut. Das hätte man wenige Minuten vorher kaum erwartet, denn da saß er noch in einem vergitterten Plexiglaskäfig, der eher an die Prozesse gegen Terroristen und Massenmörder erinnert als gegen einen Apotheker, der Rezepte fälscht. Seit nunmehr sieben Monaten sitzen er und vier weitere Angeklagte in Untersuchungshaft, da Flucht- und Verdunklungsgefahr bestehe.

Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis er den Käfig verlassen darf, um seine Version der Geschichte vorzutragen. Zuerst verzögert sich der Beginn des Prozesses, weil Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit eines Angeklagten bestehen. Sein Blutdruck ist bei 150, erst der Arzt gibt grünes Licht.

Als es losgeht, kommt zuerst das übliche Geplänkel: Einer der Anwälte will, dass sein Mandant nicht in der vergitterten Plexiglasbox sitzen muss, sondern zu ihm darf. Die Richterin lehnt ab, der Anwalt verlangt einen Gerichtsbeschluss, das Gericht muss sich zur Beratung zurückziehen. Zwangspause. Als es weitergeht, dauert es erneut eine gefühlte Ewigkeit, denn die Anklage wird verlesen: banden- und gewerbsmäßiger Betrug und Urkundenfälschung in 125 Fällen. Und jeder Fall wird einzeln vorgelesen. Hinzu kommt noch versuchter Raub in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung.

Klaus H. und seine Lebensgefährtin Galya S. sollen eine Bande angeführt haben, die von 2013 bis 2016 die Krankenkassen mit gefälschten Rezepten für hochpreisige Rx-Medikamente um 2,5 Millionen Euro betrogen hat. Elf Beteiligte sollen es insgesamt gewesen sein, fünf davon Apotheker.

Gegen sechs von ihnen ist am Montag das Verfahren am Landgericht Berlin eröffnet worden. Neben Angeklagten, denen nur die Beihilfe, teils in einzelnen Fällen, vorgeworfen wird, ist darunter auch Edin S. Ihn beschuldigt Klaus H., nicht nur die Idee gehabt zu haben, sondern die treibende Kraft hinter dem organisierten Betrug gewesen zu sein.

Edin S. habe die Rezepte jedoch nicht selbst gefälscht, sondern das von einem unbekannten Dritten machen lassen, den er nur den „Zettelmann“ nannte. Um wen es sich dabei handelte, wollen die anderen Angeklagten nicht gewusst haben. Gedruckt habe die Rezepte dann eine ebenfalls unbekannte Frau, die in der Berliner Charité arbeite.

Daraufhin mussten die gefälschten Rezepte mit Hilfe zweier Apotheker mit Großhandelslizenz – die in anderen Verfahren angeklagt sind – zu Geld gemacht werden, wozu es mehrere Möglichkeiten gab. Oft haben Strohmänner die Rezepte in einer nicht eingeweihten, aber gutgläubigen Apotheke eingereicht und die Medikamente erhalten; nur gelegentlich scheiterte diese Masche.

H. verkaufte die Medikamente dann an die beiden beteiligten Apotheker zum Großhandelspreis und machte dabei eine sogenannte „Kickback-Zahlung“ von 30 Prozent aus. Das heißt, er ließ den Großhandelspreis überweisen, ging zum Bankschalter, hob 30 Prozent des eingegangenen Geldes ab und gab es dem Apotheker in bar. War Edin S. derjenige, der den Stein ins Rollen brachte, so war es einer der beiden eingeweihten Apotheker, „der das Ganze am Laufen gehalten hat“, so Klaus H. vor Gericht.

Oft habe dieser die gefälschten Rezepte auch selbst angenommen, die Medikamente bestellt und die Rezepte dann zum Abrechnungszentrum geschickt. Die Krankenkassen wiederum hätten diese wohl nie geprüft, zumindest habe der Apotheker niemals eine Retaxation erhalten. „Das hat ihn selber gewundert“, so Klaus H. in seiner Einlassung. Nur einmal sei eine Nachfrage der AOK gekommen, aber da habe er „sich rausgeredet, dass er das Rezept gutgläubig angenommen hat“.

Die Medikamente habe er dann an Großhändler wie Noweda oder Gehe weiterverkauft und sie als Verbands- oder sonstiges Material ausgewiesen, damit seine Bücher stimmen. Klaus H. und Galya S. bekamen ihren Anteil, der jedoch weit unter dem gelegen haben soll, was in der Anklage steht. 20 Prozent seien es im Schnitt gewesen, nicht 70. Dennoch, das illegale Geschäft sei mit der Zeit gewachsen, die Summen auf den Rezepten wurden immer größer und somit auch die Anteile, die sich alle Beteiligten einsteckten. „Da konnten wir beginnen, auch ein wenig anzuhäufen“, so der Angeklagte.

Galya S. stützt die Geschichte ihres Lebensgefährten. Auch sie gibt sich geständig und reumütig. Wie Klaus H. kämpft auch sie mit den Tränen und verliert den Kampf, als sie anfängt, vom gemeinsamen Kind zu sprechen, für das sie ein gutes Beispiel abgeben wollte und das nun von ihnen getrennt ist. „Ich habe ganz schnell die Dollarzeichen gesehen und mich davon blenden lassen“, sagt sie.

Auch übernimmt sie die Schuld für die letzte Eskalationsstufe: Es habe zunehmend Konflikte mit Edin S. wegen der minderen Qualität der gefälschten Rezepte gegeben. Schließlich habe er versucht, sie zu erpressen. Entweder erhalte er mehr Geld oder er gehe zur Polizei und packe aus. Die Beweise dafür habe er auf dem Telefon.

Daraufhin habe sie keinen anderen Ausweg gesehen, als einen der Mitangeklagten zu fragen, „ob der da vielleicht jemanden kennt“. Der wollte sie erst abhalten, ließ sich dann aber überzeugen. Zwei tschetschenische Schläger habe sie daraufhin engagiert, die Edin S. verprügeln, ihm die Beine brechen und das Telefon mit den Beweisen stehlen sollten. Sie habe ihm „einen Schreck einjagen und eine Lehre erteilen“ wollen, „das mit dem Beinebrechen war aber übertrieben“, so die Angeklagte.

2000 Euro hätten die Tschetschenen als Anzahlung erhalten, weitere 6000 sollten nach Vollendung des Auftrags gezahlt werden. Doch dazu kam es nicht mehr, weil sich S. bereits ins Ausland abgesetzt hatte. H. jedenfalls habe sie erst später von dem Plan erzählt, er war nicht von Anfang an eingeweiht. S. fiel es sichtlich schwer, darüber zu berichten, denn sie „schäme sich unglaublich dafür“.

Ob das echte Reue ist oder Krokodilstränen, das muss das Gericht in den nächsten 22 Verhandlungstagen herausfinden. Und das könnte schwieriger werden, als es gerade scheint, denn es gibt auch eine andere Version der Geschichte. H. ist nämlich nicht über Nacht vom unbescholtenen Apotheker zum Bandenführer geworden. Laut Staatsanwaltschaft ist er ein „einschlägig vorbestrafter Apotheker“. Schon 2010 war von der Staatsanwaltschaft Neuruppin wegen Abrechnungsbetrugs angeklagt und später auch vom Landgericht Berlin verurteilt worden.

2012 dann wurde er wegen Betrugs in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. 2013 stritt er mit Gehe, weil er Ansprüche aus Apotheken als Sicherheit parallel an andere Gläubiger abgetreten hatte. Und das sei noch nicht alles. Auch ansonsten habe der Apotheker oft im Graubereich agiert. Seine vier Apotheken seien „unter dubiosen Umständen“ verkauft worden, heißt es aus seinem Umfeld. Auch in der Belegschaft habe man den Braten schon länger gerochen. Aber das waren „halt so Sachen, die man besser nicht so genau wissen wollte.“ Auch sei es ein offenes Geheimnis gewesen, dass H. mit einigen zwielichtigen Gestalten verkehre.

Es bleiben also viele offene Fragen. Eine ganze Reihe von mutmaßlichen Mittätern ist nach wie vor unbekannt, vom eigentlichen Rezeptfälscher bis zu den Strohmännern, die den gutgläubigen Apothekern die gefälschten Verschreibungen angedreht haben. Und natürlich die für das Strafmaß relevante Frage muss noch geklärt werden, ob Klaus H. und Galya S. tatsächlich aus einer empfundenen Not heraus agierten und ehrlich bereuen, oder ob H. einfach nur eine kriminelle Karriere auf die Spitze getrieben hat. Am zweiten Prozesstag soll Edin S. aussagen, über den es bisher nur Belastendes zu hören gab. Es wäre wenig überraschend, wenn seine Version der Geschichte bedeutend anders klingt.

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