Norditropin

AOK Hessen jagt Rezeptfälscher Lothar Klein, 06.07.2018 11:48 Uhr

Berlin - 

Vor allem in Hessen, aber auch darüber hinaus treibt ein Rezeptfälscher sein Unwesen. Von Juni 2016 bis Oktober 2017 sind allein bei der AOK Hessen 65 gefälschte Rezepte über Norditropin Flex (Somatropinum humanum) im Gesamtwert von 280.000 Euro abgerechnet worden. In 2018 sind weitere 18 Fälle aufgetaucht. In einzelnen Fällen wurden auch Apotheker durch die Fälschungen geschädigt. Die AOK Hessen retaxierte einzelne Rezepte wegen offensichtlicher Fälschungen, die die Apotheker hätten erkennen müssen. Die Fälscher sind von der Polizei noch nicht ermittelt.

Wie viele Retaxationen die AOK Hessen in diesen Fällen ausgesprochen hat, will die Kasse nicht verraten. Bei den retaxierten Rezepten handelte es sich beispielsweise um eine von einem Zahnarzt ausgestellte Verordnung. Anhand der kürzeren Betriebsstättennummer für Zahnärzte hätte der Apotheker die offensichtliche Fälschung leicht erkennen müssen, so die Kasse.

Norditropin ist ein Wachstumshormon, dass bei Kindern verordnet wird, ist aber aufgrund seiner muskelbildenden Eigenschaften in der Bodybuilderszene und in anderen Sportarten beliebt und wird missbräuchlich verwendet. Eine gängige Packungsgröße kostet fast 5000 Euro. Die gefälschten Rezepte sind laut AOK Hessen ursprünglich fast ausschließlich in hessischen Apotheken eingelöst worden, in der Regel spätabends oder im Nachtdienst. Ab 2017 seien die Täter auch in angrenzenden Bundesländern und bei anderen Kassen „umtriebig gewesen“.

„Einen nicht unerheblichen Kostenfaktor stellen Rezeptfälschungen hochpreisiger Medikamente dar. Indizien für Rezeptfälschungen sind neben einer fehlenden Mitgliedschaft für die auf dem Rezept angegebenen Personen, Medikamente mit einem hohen Missbrauchsfaktor und Ungereimtheiten bei der Betrachtung der Arzt- und Versichertenangaben auf dem Rezept. Werden allerdings Rezeptfälschungen mit korrekten Versichertendaten versehen, ist es nicht möglich, diese zu identifizieren“, so die AOK Hessen in ihrem Zweijahresbericht über Fehlverhalten im Gesundheitswesen.

Seit Juni 2016 wurden gefälschte Rezepte über Norditropin Flex Pro 15mg/1,5ml 5x1,5 ml mit der AOK Hessen abgerechnet. Eine Packung Norditropin Flex Pro 15mg/1,5ml 5x1,5 ml kostet in der Apotheke 4.776,01 Euro. In der Zeit von Juni 2016 bis Oktober 2017 wurden 65 Rezeptfälschungen über das Wachstumspräparat Norditropin von verschiedenen Apotheken in einem Gesamtwert von 280.000 Euro bei der AOK Hessen zur Abrechnung eingereicht.

Aufgrund der verschiedenen Orte der Rezepteinlösungen wurden die Ermittlungen entsprechend dem Tatortprinzip zunächst bei den jeweils zuständigen und somit unterschiedlichen Polizeidienststellen und Staatsanwaltschaften geführt. „Dies birgt die Gefahr, dass aufgrund der dezentralen Ermittlungsarbeit bestehende Zusammenhänge und Auffälligkeiten bezogen auf den Gesamt-Fälschungskomplex nicht erkannt werden können“, so die AOK Hessen. Um dem entgegenzuwirken und unter der Annahme, dass es sich bei den Rezeptfälschern um ein und denselben Täterkreis handelt, erwirkte die AOK Hessen eine überwiegend zentrale Bearbeitung der verschiedenen Taten bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt und erstattete Anzeige aufgrund des Verdachts des gewerbsmäßigen Betruges.

Die AOK Hessen geht von lediglich einem Täterkreis aus, da die Taten jeweils nach gleichem Muster abgelaufen sind. So seien die Angaben über die Bezeichnung des Präparats, die lebenslange Arztnummer sowie die Versichertenangaben wie Name, Geburtsdatum, Adresse auf den Rezepten nahezu identisch. Außerdem spreche die Häufung von Rezeptfälschungen auf Rezeptvordrucken von bestimmten Praxen für diese Annahme.

Auch die Rezepteinlösung lief in den Apotheken nach einem ähnlichem Muster ab: Das Medikament Norditropin wurde telefonisch in der Apotheke vorbestellt. Somit konnten die Täter sicherstellen, dass das Medikament auch in der Apotheke vorrätig war. Das Rezept wurde dann im Not- oder Nachtdienst oder zu Zeiten eingelöst, in denen keine Möglichkeit für die Apotheken bestand, Rücksprache mit dem angeblich verordnenden Arzt zu halten. Da die auf den Rezepten angegebenen Arztpraxen tatsächlich existieren, sei es den Apotheken wiederum nicht möglich, ein eventuell vorhandenes Misstrauen gegenüber den Rezepteinlösern mithilfe einer Internetrecherche aus dem Weg zu räumen, so die AOK Hessen.

Um die Apotheken in Hessen über die Rezeptfälschungen zu informieren und bei der Abgabe des Medikamentes Norditropin zu sensibilisieren, nahm die AOK Hessen Kontakt mit dem Hessischen Apothekerverband (HAV) auf. Der HAV warnte auf seiner Internetseite vor den Fälschern. Weiterhin bietet die AOK Hessen über die Servicehotline an, das Apotheken, die ein Norditropin-Rezept vorlegt bekommen, die Mitgliedschaft des Versicherten telefonisch bei der Kassen überprüfen lassen können.

Laut AOK Hessen können Kassen laut geltenden Arzneimittellieferverträgen die Abrechnung einer Rezeptfälschung bei der Apotheke beanstanden, wenn der Apotheker diese hätte erkennen müssen. „Aus diesem Grund wurden nach Information der Apotheken über den HAV in Zusammenarbeit mit der Fachabteilung (ILM-AM) festgelegt, welche Rezeptfälschungen beanstandet und retaxiert werden können“, so die Kassen. Retaxiert wurden nach Angaben der Kassen einzelne von einem Zahnarzt ausgestellte Rezepte.

Insgesamt liste die AOK Hessen in ihrem Bericht 840 Hinweise zu möglichem Fehlverhalten in 2016 und 2017 auf, 25 Prozent mehr als noch im Vorjahreszeitraum. Das hauseigene neunköpfige Ermittlerteam konnte gesicherte Forderungen von 3,3 Millionen Euro eintreiben, berichtet die Krankenkasse.

Seit Gründung der Stelle zur Bekämpfung von Fehlverhalten seien fast 16 Millionen Euro zurückgeführt worden. Sehr oft beschäftige sich das Team mit Luftleistungen, Rezeptfälschungen und Doppelabrechnungen. Der mittlerweile siebte Zwei-Jahres-Bericht der AOK Hessen zu Fehlverhalten im Gesundheitswesen listet 448 Fälle auf, die 2016 und 2017 bearbeitet wurden, davon 296 Neufälle. „Diese Steigerung ergibt sich aus der Zunahme von Hinweisen, die zwar nicht alle zu einem begründeten Verdacht führen, aber immerhin mussten wir in 117 Fällen die Staatsanwaltschaft unterrichten“, erklärt Heike Degenhardt-Reinmold, Leiterin der von Eschborn aus operierenden Stabsstelle.

Das Fallspektrum ist laut AOK Hessen breit gefächert. Versicherte, die Leistungen erschleichen, finden sich ebenso unter den Sündern wie Personen in der ambulanten und stationären Versorgung, darunter einzelne Ärzte, aber auch auch Apotheken. Ein anderes Beispiel betrifft einen ambulanten Pflegedienst, der nicht erbrachte Leistungen in Rechnung gestellt habe. Zeugenbefragungen der Polizei hätten gezeigt, dass die Pflegebedürftigen keine der angegebenen Leistungen erhielten. So seien Körperwäschen oder Hilfeleistungen bei Toilettengängen zwar abgerechnet, aber nie erbracht worden. In 64 Fällen von Abrechnungsbetrug sei so im Bereich der Pflegeversicherung ein Gesamtschaden von fast 65.000 Euro entstanden.