KBV droht dem BMG mit Komplettverweigerung

Ärzte-Aufstand gegen Konnektorenpflicht

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Berlin -

Das Verbindungsproblem in der Telematikinfrastruktur (TI) ist vorbei, der Ärger deshalb aber noch lange nicht. In der Ärzteschaft rumort es, viele Mediziner wehren sich nach Kräften gegen die Art und Weise, wie Bundesgesundheitsministerium (BMG) und Gematik den Anschluss der Praxen an die TI vorantreiben. Mit einem Brandbrief an die Führung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) haben nun neun Kassenärztliche Vereinigungen (KVen) ihrem Unmut Luft gemacht: In einem Rundumschlag beschweren sie sich über Kosten, auf denen sie sitzenbleiben, unrealistische Anforderungen seitens des Gesetzgebers, Einflussnahme der Industrie und Sanktionen gegen kritische Mitglieder. Bei der KBV wiederum ist der Frustpegel offenbar auch am Anschlag: Sie droht dem BMG zeitgleich, sich künftig der weiteren Digitalisierung komplett zu verweigern.

Es ist geschafft – zumindest, wenn man der Gematik glaubt: Vergangenen Mittwoch vermeldete die Telematikgesellschaft, dass nach mehr als anderthalb Monaten wieder alle Arztpraxen mit der TI verbunden sind. Am 27. Mai war es bei einem Update zum fatalen Fehler gekommen: Ein ungültiges Zertifikat knockte zehntausende Konnektoren aus, die Praxen kamen nicht mehr in die TI, konnten entsprechend keine elektronischen Gesundheitskarten mehr auslesen. Seitdem haben Ärzte, ihre Standesvertreter, die Gematik und nicht zuletzt das BMG Ärger nicht nur mit der Behebung des Problems, sondern vor allem untereinander.

Der bundesweite Konnektorenausfall war dabei nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. „Zusammenfassend ist jetzt eine Situation der TI-Anbindung erreicht, die für die ärztliche und psychotherapeutische Basis nicht mehr tolerierbar ist“, schreiben neun KV-Vorsitzende in einem gemeinsamen Brief an KBV-Chef Dr. Andreas Gassen, seinen Stellvertreter Dr. Stephan Hofmeister und Vorstandsmitglied Dr. Thomas Kriedel. Und das KV-Bündnis ist stark: Die neun Verbänden sind die von Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Nordrhein, Westfalen-Lippe, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen, Saarland und Mecklenburg-Vorpommern – sie repräsentieren mehr als zwei Drittel der deutschen Arztpraxen.

Und die haben offensichtlich die Nase voll vom von höchster Stelle verordneten Digitalisierungsschub. „Fakt ist, wir als Landesvorstände sind nicht mehr in der Lage, die TI mit ihrer inzwischen unendlichen Reihe von Pannen und Peinlichkeiten, verbunden mit einem Null-Nutzen, unseren Mitgliedern weiter zu vermitteln“, schreiben die KV-Chefs. „Die ärztlichen und psychotherapeutischen Mitglieder in den unterzeichnenden KVen akzeptieren einfach die Rahmenbedingungen der TI-Ausgestaltung in der derzeitigen Form nicht mehr.“ Die Kollegen seien schlicht „in keiner Weise mehr zur Akzeptanz der derzeitigen TI Struktur zu motivieren“, heißt es an anderer Stelle.

Dabei mühen sie sich, keinen Eindruck von prinzipiellen Digitalisierungsgegnern aufkommen zu lassen. Genereller Tenor in den Ländern sei, dass eine digitale Vernetzung und ein deutlich verbesserter Informationsaustausch zwischen allen Beteiligten im Gesundheitswesen weiter nachdrücklich begrüßt wird, „die hierfür zur Verfügung stehende Technik in Form des Steinzeitkonnektors, die weitere Hardware, das Management durch die Gematik, der Einfluss der Industrie, die politischen, gesetzgeberischen Rahmenbedingungen und auch die Rolle der KBV aber in keiner Weise mehr akzeptiert wird“.

Der offene Brief aus den Ländern zeugt nicht nur von einem tiefsitzenden Frust aufgrund der politischen Vorgaben, sondern vielmehr auch davon, dass es innerhalb der Ärzteschaft zu massiven Verwerfungen gekommen sein muss: Die Politik sei mit dem Vorhaben gescheitert, die KBV bei der Umsetzung des Vorhabens TI-Anschluss zu unterstützen. Gleichzeitig gelte aber: „Leider fühlen wir uns in diesem Falle auch, trotz des an den KBV-Vorstand immer wieder ausgesprochenen Auftrags, den Prozess aktiv mitzugestalten, hier nicht mehr wirklich durch diesen vertreten“, heißt es da.

Und die Liste der Klagen ist lang – unzufrieden sind die KVen eigentlich mit allen Beteiligten. So fühlen sich die Ärzte von den Anbietern über den Tisch gezogen, ohne dass Politik oder KBV etwas dagegen getan hätten. „Die Anschlusskosten wurden, auch durch die Systemhäuser bedingt, so hoch, dass in der Regel die Kosten des Anschlusses an die TI den Erstattungsbetrag weit überschritten“, heißt es da. Beim zurückliegenden TI-Ausfall sei die Kommunikation seitens der Gematik „mehr als dürftig“ gewesen – während die Konnektorenanbieter anscheinend versucht haben, an der Notsituation zu verdienen.

So sollen die Kosten zur Wiederherstellung der TI-Funktion zwar in den Wartungspauschalen enthalten sein, die Anbieter seien aber in vielen Fällen überhaupt nur bereit, den TI-Konnektor wiederherzustellen und in die Praxen zu kommen, wenn die Ärzte vorab versichern, die Kosten vollumfänglich und nicht im Rahmen der Pauschalen zu tragen. Das habe erneut zu erheblichen finanziellen Mehraufwendungen für die Ärzte geführt. „Der schlichte Hinweis, man möge doch dann die Rechnung an die Gematik schicken, kann kein zu akzeptierender Lösungsansatz sein, da primär der Arzt als Rechnungsempfänger und Auftragnehmer auf den Kosten sitzen bleibt.“

Doch auch die Politik hat die Ärzte übers Ohr gehauen, wenn man der Argumentation der KVen folgt: Denn seit dem 1. Juli erhalten Ärzte keine Pauschale für die Portokosten von Arztbriefen mehr. Stattdessen gibt es eine Gebührenordnungsposition für Faxe von 10 Cent bei einer maximalen Grenze von 23,40 Euro pro Praxis und Quartal. Die Begründung für die Änderung: Arztbriefe seien schließlich über die TI zu verschicken. Allerdings: „Die erforderlichen Voraussetzungen sind in der TI noch gar nicht vorhanden, was dazu führt, dass die Betroffenen sich schlechthin getäuscht empören.“ Denn real bedeute die neue Regelung insbesondere für große Praxen einen Verlust von bis zu 2000 Euro pro Quartal, da Briefe nun ohne Abrechnungsmöglichkeit des Portos weiter verschickt werden müssen. „Das ist in keiner Weise akzeptabel und mündet ebenfalls zu weiterem Unmut über die TI.“

Unter diesem Vorzeichen sei die Einführung des einheitlichen Kommunikationsdienstes KIM – über den künftig auch der Austausch zwischen Apothekern und Ärzten laufen soll – zum Scheitern verurteilt. Unter den gegebenen Bedingungen werden sich die Ärzte der Einführung demnach verweigern. „Es ist vorhersehbar, dass ein flächendeckendes Update angesichts der Protesthaltung der Ärzte nicht erreichbar sein wird und somit zum 01.01.2021 die Etablierung der eAU nicht in Kraft treten kann.“ Von ihrem Dachverband fordern die KVen deshalb, mit allen Mitteln Druck im BMG zu machen.

Die KBV-Spitze solle bei Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vorstellig werden und ihn dazu bringen, auf eine vollständige Finanzierung aller TI-Kosten durch die GKV hinzuwirken, durch eine Gesetzesänderung die Sanktionen einer nicht stattgefundenen TI-Anbindung bis zu dem Zeitpunkt auszusetzen, bis eine sichere softwarebasierte Vernetzungsstruktur für die Praxen geschaffen ist. Auch soll Spahn demnach die Industrie ausbooten: Dem KBV/KV-System müsse die Möglichkeit gegeben werden, „endlich industrieunabhängig eigene Lösungen für den PVS/TI-Bereich in den Vertragsarztpraxen zu entwickeln und den Mitgliedern der Landes-KVen zur Verfügung zu stellen.

Dass die KBV bei Spahn allzu viel ausrichten kann, scheint jedoch mehr als fragwürdig – zumindest, wenn man ihrer eigenen Version der Geschichte glaubt. Just an dem Tag, als das KV-Bündnis seinen Brandbrief an den eigenen Dachverband schickte, trat der selbst mit einem offenen Brief an die KV-Vorstände. Denn auch zwischen KBV und BMG gibt es offensichtlich dicke Luft. Inmitten der Coronakrise hatte die KBV sich nämlich Mitte April an das Ministerium gewandt und in einem Schreiben, das APOTHEKE ADHOC vorliegt, ebenfalls massive Nachbesserungen gefordert – erfolglos. Ganze drei Monate, nachdem sich Gassen, Hofmeister und Kriedel an Spahn wandten, erhielten sie eine schriftliche Antwort vom Leiter der Digitalisierungsabteilung im BMG, Dr. Gottfried Ludewig. Und die gefiel Gassen & Co. gar nicht. Leider habe das BMG „keine Bereitschaft erkennen lassen, auf unsere gemeinsamen berechtigten wichtigen Anpassungswünsche von KBV und KVen einzugehen“, schreiben sie nun an ihre Landesverbände.

Die KBV schiebt den schwarzen Peter damit weiter: Sie setze sich genauso wie die KVen „mit all ihren vom Gesetzgeber überlassenen Möglichkeiten dafür ein, um diese entscheidenden Veränderungen für all unsere Vertragsärztinnen und Vertragsärzte erreichen zu können“. Offensichtlich ist die KBV-Führung aber mit ihrem Latein am Ende. Unverhohlen droht sie in ihrem offenen Brief nämlich damit, sich künftig komplett auf die Hinterbeine zu stellen: „Wenn auch unsere gemeinsamen Bemühungen weiterhin erfolglos bleiben sollten, wird der KBV daher auch nichts Anderes übrig bleiben, als im Rahmen des Möglichen die Umsetzung der Vorgaben gegenüber dem BMG zu verweigern, da der KBV Vorstand sehr genau um die Bedeutung dieser Forderungen für unsere Vertragsärzteschaft weiß.“ Wie das BMG mit der Drohung umgeht, ist noch offen – wahrscheinlich ist aber, dass es sich mit seiner Reaktion nicht noch einmal ein Vierteljahr Zeit lässt.

 

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