Rezepturprivileg

Kapselherstellung ist keine Rezeptur Marion Schneider, 14.09.2017 15:37 Uhr

Berlin - 

Das Rezepturprivileg wackelt. Eine Apotheke aus Hessen soll einem Hersteller Schadenersatz zahlen, weil sie für Patienten Kapseln mit dem Wirkstoff Idebenon hergestellt und damit gegen ein Patent verstoßen haben soll. Alleine die Kosten für die Abmahnungen summieren sich bislang auf 10.000 Euro. Das Landgericht Hamburg sah die individuellen Zubereitungen nicht als Rezeptur an, obwohl sie von einem Arzt verordnet worden waren. Aus Sicht der Richter ist die Abfüllung in der Apotheke nicht entscheidend für die Qualität des Medikaments.

Die Apotheke hatte seit 2015 Kapseln mit dem Wirkstoff Idebenon hergestellt. Auf ihrer Webseite informierte sie über die Erbkrankheit Duchenne-Muskeldystrophie (DMD) und verwies dabei auch auf die Phase-III-Studie Delos, in der ein positiver Einfluss von Idebenon auf die Erkrankung festgestellt wurde. Darunter informierte die Apotheke über Bestellung und Zahlungsmöglichkeiten.

Möglich war dies, da der Wirkstoff erst 2016 in die Arzneimittelverschreibungsverordnung aufgenommen wurde. Idebenon wird im europäischen Ausland und den USA auch als Nahrungsergänzungsmittel in Pulver- oder Kapselform vertrieben. Als Pulver kann es oral eingenommen werden, indem es in Nahrungsmittel wie Joghurt eingerührt oder sublingual verabreicht wird. In Wasser kann Idebenon nicht aufgelöst werden und wegen seines bitteren Geschmacks kann es auch nicht unmittelbar auf die Zunge appliziert werden.

Im Juli 2016 bekam die Apotheke Post vom Hersteller Santhera. Die Firma vermarktet Idebenon seit 2015 unter dem Markennamen Raxone zur Behandlung der Leberschen Hereditären Optikusneuropathie (LHON). Die Wirksamkeit des Mittels zur Behandlung von DMD untersuchte der Konzern unter anderem in der Delos-Studie. Im Juni 2016 reichte Santhera die erforderlichen Zulassungsunterlagen bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) ein. Die Prüfung dauert derzeit noch an. Die Kapseln der Apotheke enthielten 300 mg Idebenon sowie die Hilfsstoffe mikrokristalline Cellulose und Aerosil. Im Gegensatz zu Raxone wurde keine Lactose verwendet. Die Filmtabletten von Santhera enthalten 150 mg Idebenon.

Der börsennotierte Hersteller aus der Schweiz sah die Kapseln als Konkurrenz – obwohl das eigene Produkt in der Indikation DMD bis heute nicht zugelassen ist. Die Apotheke habe verschiedene Verwendungspatente verletzt und könne sich nicht auf das Rezepturprivileg berufen, da effektiv nur der Wirkstoff verkapselt werde. Außerdem klagte der Hersteller gegen die Werbung mit der Delos-Studie auf der Website. Santhera verkauft Raxone für 3700 Euro pro 180 Tabletten (ApU), laut dem Anwalt der Apotheke ist dies das 22-Fache der Rezepturherstellung.

Der Apotheker argumentierte, er habe die Kapseln ausschließlich auf ärztliche Verordnung produziert. Wenn durch das Kompaktierungsverfahren ein lactosefreies und besser dosierbares Arzneimittel als Raxone hergestellt würde, handele es sich dabei um einen wesentlichen Herstellungsschritt, der nur mit pharmazeutischer Ausbildung fachkundig möglich sei. Die Tatsache, dass die Kapseln ohne Lactose und bereits ab einer Dosierung von 50 mg für die Anwendung bei Kindern hergestellt worden seien, spreche für die individuelle Zubereitung.

Die Richter in Hamburg gaben Santhera recht: Zwar bestritten sie nicht, dass die Kapseln individuell hergestellt würden, trotzdem seien weder als Rezeptur noch als Defektur einzustufen, sondern als Fertigarzneimittel. Die Apotheke fülle den Wirkstoff lediglich zusammen mit Hilfsstoffen in eine Kapsel ab. „Das bloße Portionieren des Wirkstoffes stellt keinen materiellen Schritt des Herstellens des Arzneimittels dar“, begründeten sie ihr Urteil.

Das Hinzufügen der Hilfsstoffe diene nicht den Patienten, sondern lediglich der vom Apotheker durchgeführten Verkapselung. Diese sei nicht unbedingt nötig, da das Mittel trotz des bitteren Geschmacks und der Wasserunlöslichkeit oral eingenommen werden könne. „Der Wirkstoff wird durch die Verkapselung also nicht erst anwendungsfähig, sondern in der Anwendbarkeit nur verbessert“, so die Richter.

Dieser Logik folgend hat die Apotheke damit ein Fertigarzneimittel ohne Zulassung in den Verkehr gebracht. Entsprechend wurde ihr untersagt, die Kapseln weiterhin in den Verkehr zu bringen oder zu bewerben.

Von den zwei angeprangerten Patentrechtsverletzungen hatte nur eine vor Gericht Bestand. Hier wurde der Apotheke zum Verhängnis, dass sie die Kapseln auf ihrer Website zur Therapie von respiratorischer Schwäche bei DMD beworben und in diesem Zusammenhang auf die Delos-Studie verwiesen hatte. Aus Sicht der Richter war damit klar, dass die Kapseln in dem geschützten Anwendungsbereich eingesetzt wurden.

Hätte das Gericht die individuellen Herstellungen als Rezeptur anerkannt, wäre die Apotheke trotzdem ein Konkurrent für Santhera gewesen. Dies wäre aber durch das Rezepturprivileg gerechtfertigt gewesen. Auch die Patentrechtsverletzung wäre dann weggefallen, da Patente nicht gegenüber Rezepturen gelten. Auf den Kontrahierungszwang konnte sich die Apotheke nicht berufen, da dieser nur im Rahmen des rechtlich Erlaubten gilt. Sprich: Die Ärzte hätten Raxone verschreiben müssen.

Die Apotheke muss Santhera nun detailliert Auskunft über den Vertrieb der Kapseln geben und den dadurch entstanden Schaden ersetzen. Alleine für die Abmahnungen soll die Apotheke mehr als 9000 Euro berappen und die weiteren Kosten des Verfahrens tragen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, da die Apotheke in Berufung gehen wird. Sie sieht das Urteil als Angriff auf das Grundrecht der Apotheker zur Rezepturherstellung.

Es ist nicht das erste Mal, dass ein Gericht an den Grundwesen der Regularien für die Rezepturherstellung rüttelt. 2015 entschied das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (OVG) in einem Verfahren gegen einen Apotheker, dass unter den Begriff der Rekonstitution „nur einfache, gegebenenfalls auch vom Verbraucher ausführbare Tätigkeiten fallen können“. Die Richter verwiesen auf das Arzneimittelgesetz (AMG): Darin ist die Rekonstitution als Überführung eines Arzneimittels in seine anwendungsfertige Form unmittelbar vor seiner Anwendung „gemäß den Angaben der Packungsbeilage“ definiert. Was darüber hinausführt, sei eine Herstellungstätigkeit – für die der Apotheker die entsprechenden Reinräume brauche. Das Problem: Damit sind nach bisheriger Rechtsprechung Sterillösungen aus der Apotheke weder Rezeptur noch Rekonstitution.

Im April verbot das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht die Zubereitung von Rezepturen für Ärzte, die offensichtlich zur Behandlung mehrerer Patienten genutzt würden. Rezepturen seien nur als individuelle Zubereitung anzusehen, wenn der jeweilige Patient auf dem Rezept genannt werde, so das Urteil. Für den Praxisbedarf komme die Defekturherstellung in Frage, allerdings begrenzt auf 100 Patientenportionen täglich. So solle ein Missbrauch der Privilegierung vermieden werden.

Im Juli dieses Jahres urteilte zumindest der Bundesgerichtshof (BGH) zugunsten der Apotheker. Hausspezialitäten, die im Rahmen der Defektur hergestellt werden, dürfen von Apotheken beworben werden. Wer allerdings spezielle Arzneimittelzubereitungen im Versandhandel anbietet, braucht eine Zulassung.