Chronopharmakologie

Arzneimitteleinnahme: Zeit ist Wirkung Deniz Cicek-Görkem, 28.06.2018 14:44 Uhr

Berlin - 

Eine optimale Arzneimitteltherapie ist einerseits von einem schnellen Behandlungsbeginn und andererseits auch von einer Applikation zum richtigen Zeitpunkt abhängig. So gibt es Medikamente, die zu bestimmten Tageszeiten eingenommen werden sollten – und dazu gehören nicht nur orale Arzneiformen. Interessanterweise sind Hepatitis-B-Impfungen am Nachmittag effektiver, da nachmittags das Immunsystem aktiver ist und schneller Antikörper bildet.

Rhythmische Abläufe in der Umwelt werden unter anderem vom kontinuierlichen Wechsel von Licht und Dunkelheit und von Aktivität und Ruhe geprägt. Aber auch Prozesse innerhalb des menschlichen Körpers unterliegen einem zyklischen Turnus. Daraus folgt, dass die Wirkung von Arzneimitteln vom Zeitpunkt der Applikation abhängig sein kann, denn dieser kann die Substanz sowohl wirkungsvoller machen, als auch zur Reduktion der Nebenwirkungen beitragen. Wird der Verlauf der Blutspiegelkurve beeinflusst, spricht man von Chronopharmakokinetik. Ändert sich hingegen die Empfindlichkeit das Zielsystems, ist von „Chronopharmakodynamik“ die Rede. Bisher sind nur ein kleiner Bruchteil der Medikamente auf chronobiologische Eigenschaften untersucht worden.

Biorhythmen können die Arzneimittelwirkung auf unterschiedlichen Ebenen modulieren. So ist beispielsweise die Konzentration an Glucocorticoiden in den frühen Morgenstunden am höchsten. Im Allgemeinen wird daher die gesamte Tagesdosis frühmorgens zwischen 6 und 8 Uhr eingenommen. Die Zufuhr erfolgt somit zeitgleich mit der körpereigenen Cortisonproduktion. Da zu diesem Zeitpunkt der Cortisonspiegel maximal ist, wird das zugeführte Hormon weniger vom Organismus wahrgenommen, als dies zu späteren Tageszeiten der Fall wäre. Bei einer phasengerechten Anwendung lassen sich Wirkstoffmengen sparen und folglich Nebenwirkungen reduzieren. Hohe Tagesdosen können dennoch in Abhängigkeit von der Erkrankung und Empfehlung des Arztes auch auf zwei bis vier, mittlere Tagesdosen auf zwei bis drei Einzelgaben verteilt werden.

Eine circadiane Rhythmik wurde auch bei der Magensäuresekretion, bei gastrointestinalen Enzyme und der Magenentleerungszeit nachgewiesen. So wurde für eine Vielzahl von H2-Blockern wie Ranitidin, Famotidin und Cimetidin gezeigt, dass in der Regel eine einzelne abendliche Dosis – unabhängig von der Halbwertzeit der Substanzen – ausreichend therapeutisch wirksam sein kann. Allerdings kann nach der Einnahme eine kleine Mahlzeit die Hemmung der Säuresekretion verhindern, so dass nach der abendlichen Gabe der H2-Blocker keine Mahlzeit eingenommen werden sollte. Blutanalysen demonstrieren, dass es eine tageszeitabhängige unterschiedliche Dosis-Wirkungs-Beziehung gibt.

Protonenpumpenhemmer (PPI) erhöhen den intragastralen pH-Wert nach morgendlicher Gabe stärker als nach abendlicher Applikation, im Gegensatz zu den H2-Blockern. So waren nach Einnahme von Omeprazol 40 mg am Morgen die maximal erreichte Konzentration (Cmax) höher und tmax kleiner als nach Einnahme am Abend. Daher wird eine abendliche Applikation empfohlen. Für Lansoprazol wurden darüber hinaus eine starke Verminderung der Bioverfügbarkeit nach abendlicher Gabe gefunden. Zur Erzielung einer optimalen Wirkung sollte der Arzneistoff deshalb einmal täglich morgens eingenommen werden, außer bei der Anwendung zur Eradikation von H. pylori, bei der die Behandlung einmal morgens und einmal abends erfolgt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Pharmaka, die bei säurebedingten Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts eingesetzt werden, unterschiedliche Tagesprofile aufweisen.

Auch bei Statinen spielt die Biorhythmik eine bedeutende Rolle. Die Substanzen hemmen die HMG-CoA-Reduktase und triggern indirekt die Expression von LDL-Rezeptoren in der Leber. Die Expression des Enzyms erreicht in der Mitternacht ein Maximum unterliegt, deshalb sollten sie im Allgemeinen abends appliziert werden, so wie auch Antiallergika aus der Gruppe der H1-Rezeptorantagonisten. Allerdings gibt es substanzspezifische Unterschiede. Untersuchungen haben nämlich gezeigt, dass bei der abendlichen Einnahme von Lovastatin und Simvastatin die LDL-Konzentration stärker gesenkt wird als bei der morgendlichen Einnahme. Beide Arzneistoffe sollten daher abends eingenommen werden, so lauten auch die Empfehlungen der Fachinformationen. Bei Atorvastatin, das eine lange Halbwertzeit (14 Stunden) hat, waren tageszeitliche Unterschiede im Hemmeffekt auf die LDL-Konzentration nicht festzustellen. Daher kann dieser Wirkstoff unabhängig von der Tageszeit eingenommen werden.

Weiterhin weist das Thyreoidea-stimulierendes Hormon (TSH) einen circadiane Rhytmus auf. Die Produktion folgt einem 24-Stunden-Zyklus mit regelmäßigen Schwankungen. Höchstwerte werden zwischen 2.00 und 4.00 Uhr am Morgen erreicht. Sie fallen dann am Nachmittag bis 20 Uhr ab. Fehlt TSH oder kann es nicht ausreichend produziert werden, unterbleibt die Produktion der Schilddrüsenhormone. In der Folge entsteht ein Mangel, der durch eine externe Zufuhr ausgeglichen werden muss. Gewöhnlich wird empfohlen, die Hormone morgens nüchtern mindestens eine halbe Stunde vor dem Essen einzunehmen. Doch neuere Analysen zeigen, dass eine abendliche Einnahme von Levothyroxin genauso effektiv ist wie eine morgendliche Nüchterneinnahme 30 Minuten vor dem Frühstück. Da die Wirkstoffresorption mit Nahrung stark vermindert wird, sollten die Tabletten entweder 30 Minuten vor dem Abendessen oder vor dem Schlafengehen mit mindestens zwei Stunden Abstand zur letzten Mahlzeit eingenommen werden.

Um vier Uhr morgens ist die Wahrscheinlichkeit für einen Asthma-Anfall am höchsten. Zu diesem Zeitpunkt ist Studien zufolge die Bronchialweite am geringsten. Deshalb wird empfohlen, die einmal tägliche Dosis von Glucocorticoiden wie beispielsweise Budesonid am Abend zu inhalieren, um das Risiko eines Anfalls zu minimieren. Bei zweimal täglicher Dosierung sollte die Applikation morgens und abends erfolgen. Aus der Blutdruck-Therapie ist hingegen bekannt, dass viele Antihypertensiva (Betablocker, Diuretika, Kalziumkanalblocker) tagsüber besser wirken als in der Nacht. Das liegt daran, dass sie während des Tages die gesteigerte Sympathikusaktivität hemmen. Ihre Wirkung kann sich deshalb tagsüber vollständig entfalten. Nachts hingegen überwiegt der Parasympathikus, was einen Blutdruck- und Pulsabfall mit sich bringt. Ein Betablocker wäre abends daher nicht von großem Nutzen.

Auch das Schmerzempfinden unterliegt einem Tagesrhythmus. Die Schmerzsensibilität ist nachts am höchsten, besonders in den frühen Morgenstunden. Dann nimmt sie ab und ist am Nachmittag gegen 14 Uhr am geringsten. Die beste Wirkung für Metamizol zeigt sich nach Einnahme am Morgen. Acetylsalicylsäure ist in Bezug auf die gastronintestinalen Nebenwirkungen besser verträglich, wenn sie gegen 22.00 Uhr eingenommen wird. Das ist auch Ketoprofen der Fall: Die Wirksamkeit ist zwar unabhängig vom Einnahmezeitpunkt, am Abend wurde jedoch eine bessere Verträglichkeit beobachtet.

Im Schlaf steigt die Schmerzempfindlichkeit, andererseits ist sie bei Aktivität und Ablenkung niedriger. Krebspatienten bekommen daher über die Nacht bevorzugt retardierte Analgetika, um einen Wirkstoffabfall und damit Schmerzspitzen zu vermeiden. Für Zahnschmerzen ist man nachts am empfindlichsten. Es gibt ein Arzneimittel, das sich diese Mechanismen berücksichtigt: Dolomo TN. Das insbesondere in der Zahnmedizin eingesetzte Präparat besteht aus zweifarbigen (weiß, blau) Tabletten mit unterschiedlichen Wirkstoffen. Die weißen Tabletten enthalten Acetylsalicylsäure, Paracetamol und Coffein und werden tagsüber eingesetzt. Die blauen Tabletten enthalten statt Coffein Codein als weiteres Schmerzmittel. Diese Tabletten werden 20 bis 30 Minuten vor dem Schlafengehen eingenommen. Das Schmerzempfinden kann auch außerdem durch einen Schlafmangel erhöht werden.