Sonder-PZN

Barmer retaxiert pharmazeutische Bedenken Lothar Klein, 04.09.2017 10:14 Uhr

Berlin - 

Bundesweit sorgen Retaxationen der Barmer für Ärger. In Thüringen hat die Kasse aktuell sogar Rezepte mit der Sonder-PZN „pharmazeutische Bedenken“ retaxiert. Für den Landesapothekerverband (ThAV) wiegen diese Fälle „um ein Vielfaches schwerer“ als die bisherigen Beanstandungen, weil damit der Apotheker in seiner ureigenen Verantwortung um die pharmazeutische Beurteilung der Arzneimitteltherapie nicht mehr gerecht werden kann. Als Ausweg empfiehlt der Verband den Apothekern die private Liquidierung von Kassenrezepten.

„Der Barmer ist die strikte Einhaltung der Aut-idem-Regeln wichtiger als die Versorgung ihrer Versicherten mit dringend benötigten Arzneimitteln“, kritisiert der Verband das strikte Vorgehen der Kasse. Aktuell liegen zwei Faktor-6-Retaxationen vor und eine Beanstandung wegen „Akutversorgung“. In allen drei Fällen hatten die Apotheker das entsprechende Rabattarzneimittel der Barmer nicht vorrätig. Auch die im Rahmenvertrag vorgesehene Abgabe eines der drei preiswertesten Alternativen oder eines Importarzneimittels war nicht möglich.

Im Fall der Akutversorgung bat der Apotheker darum, nur die Differenz zum Rabattarzneimittel zu retaxieren. Das lehnte die Kasse ab. Auch die in den beiden anderen Retax-Fälle geltend gemachten pharmazeutischen Bedenken will die Barmer nicht aktzeptieren. Die Kasse vertritt die Auffassung, dass der Apotheker das Rezept hätte vom Arzt ändern lassen müssen. Das hält der Apothekerverband Thüringen im Apothekenalltag für nicht praktikabel, vor allem weil die Öffnungszeiten von Apotheken und Arztpraxen nicht identisch sind.

In einem Info-Schreiben an ihre Apotheker weist der ThAV auf den Kontrahierungszwang hin. Apotheken müssten die Patienten versorgen. Der Kontrahierungszwang sei „die höhere Rechtsnorm und somit den liefervertraglichen Verpflichtungen übergeordnet“, heißt es. Als „möglichen“ Ausweg aus dieser „Mission Impossible“ sieht der ThAV die „private Liquidierung“ einer GKV-Verordnung, „um Patienten im Aktufall zeitnah versorgen zu können“.

Dazu bestehen zwei Alternativen: Der Patient bezahlt das Arzneimittel in der Apotheke und versucht anschließend, von der Barmer eine Erstattung zu erhalten. Möglich ist aber auch die Forderung nach einer sogenannten „Wunschverordnung“. In diesem Fall erhält der Patient vom Apotheker eine Kopie des Rezeptes mit entsprechendem Vermerk. Das macht für die Kasse einen Unterschied: In diesem Fall kann sie vom Hersteller den gesetzlichen Rabatt einfordern. Im ersten Fall nicht.

Nach APOTHEKE ADHOC-Informationen häufen sich bei der Barmer Rezepte mit den Sonder-PZN „pharmazeutische Bedenken“ oder „Akutversorgung“. Diese Sonder-PZN würden von Apothekern als „Joker“ eingesetzt, wenn die Barmer-Rabattarzneimittel nicht vorrätig seien. In Thüringen ist die AOK Plus mit einen Marktanteil von rund 70 Prozent der Versicherten der Platzhirsch unter den Kassen. Die Apotheker richten sich mit ihrer Arzneimittelbevorratung naturgemäß auf die Rabattverträge der AOK Plus ein. Damit kommt es häufiger zu Ausfällen bei der Versorgung mit Rabattarzneien anderer Kassen.

Der Streit um die Barmer-Retaxationen schwelt schon seit Monaten. Auch der DAV hat sich in die Auseinandersetzung bereits eingeschaltet. Auf der letzten Sitzung der Arbeitsgruppe Retaxation analysierten die Retaxexperten der Landesapothekerverbände (LAV) die Lage analysieren. Der DAV hält Nullretaxationen bei Rezepten der Akut- und Notfallversorgung grundsätzlich für unzulässig.

„Sofern es sich um Retaxationen handelt, die mit einem Verstoß gegen die Abgabebestimmung gemäß § 4 Absatz 4 des Rahmenvertrages begründet werden, sieht der DAV kein Recht zur Vollabsetzung“, so ein Sprecher. Allenfalls käme ein Recht auf Teilretaxierung in Betracht, „da der Barmer ein Schaden lediglich in anteiliger Höhe zum Abrechnungswert entstanden sein kann“. Ob die Voraussetzungen dafür erfüllt seien, hänge davon ab, ob weitere, die Belieferung „ausschließende Gründe wie vor allem die Nichtverfügbarkeit der Arzneimittel gegeben sind“, so der DAV-Sprecher.

Die Barmer dagegen hält eine Nullretaxation für zwingend: „Eine Vollabsetzung erfolgt, wenn gegen die Vereinbarungen zur Arzneimittelauswahl im Rahmenvertrag verstoßen wird, denn in diesem sind alle Lieferberechtigungen und -verpflichtungen geregelt“, so die Barmer. Nachzulesen sei das im Urteil des Bundessozialgerichts (BSG): „Den Apotheker trifft die Pflicht, ordnungsgemäß vertragsärztlich verordnete Arzneimittel nur im Rahmen seiner Lieferberechtigung an Versicherte abzugeben.“

Verletze er diese Pflicht, sei dies sein Risiko: „Die Krankenkasse muss für nicht veranlasste, pflichtwidrige Arzneimittelabgaben nichts zahlen.“ Missachten Apotheker Rabattverträge, können die Kassen also den kompletten Betrag retaxieren. Die Vollabsetzung ist laut Barmer demnach „selbstverständlich zulässig“, der Auszug aus dem Urteil sei „unmissverständlich“.

Spannender als die Höhe der Absetzung ist aber die Frage, ob die Barmer überhaupt einen Anspruch hat, den von den Apothekern dokumentierten dringenden Bedarf anzuzweifeln. Im Rahmenvertrag ist für akute Fälle eine Ausnahme von der Austauschpflicht vorgesehen. Wörtlich heißt es: „Ist ein rabattbegünstigtes Arzneimittel in der Apotheke nicht verfügbar und macht ein dringender Fall die unverzügliche Abgabe eines Arzneimittels erforderlich (Akutversorgung, Notdienst), hat die Apotheke dies auf der Verschreibung zu vermerken, das vereinbarte Sonderkennzeichen aufzutragen und ein Arzneimittel nach den Vorgaben des Absatzes 4 abzugeben.“

Genau auf diesen Passus verweist die Barmer: Nur wenn alle diese Möglichkeiten ausgeschlossen seien, könne in einem Notfall ein anderes, teureres Arzneimittel abgegeben werden. Offenbar meint die Kasse, eine Lücke entdeckt zu haben: Wie ein „dringender Fall“ zu interpretieren und wann die „unverzügliche Abgabe eines Arzneimittels erforderlich“ ist, ist im Rahmenvertrag nicht eindeutig geregelt. Nur beispielhaft sind Akutversorgung und Notdienst genannt.

Der Streit geht also im Kern darum, wer die Hoheit hat, Rahmenbedingungen für die Akut- und Notfallversorgung auslegt – der abgebende Apotheker oder die Kasse. Die Auslegungshoheit ist weder aus den gesetzlichen Vorschriften, noch aus dem Rahmenvertrag herauszulesen.