EuGH-Urteil

Rx-Boni: Die Begründung APOTHEKE ADHOC, 19.10.2016 11:57 Uhr

Berlin - 

Laut EuGH wird durch die Rx-Festpreisbindung der freie Warenverkehr innerhalb der EU eingeschränkt – und zwar in unzulässiger Weise: Denn die gesetzliche Regelung ist aus Sicht der Richter nicht geeignet, um die Versorgung der Patienten und damit den Gesundheitsschutz zu garantieren. Die Gründe.

Der EuGH verweist auf das DocMorris-Urteil aus dem Jahr 2003: Ein Versandhandelsverbot beeinträchtigt ausländische Apotheken stärker als Apotheken in Deutschland, die immerhin die Möglichkeit hätten, Arzneimittel vor Ort zu verkaufen. Dadurch werde der Marktzugang für Waren aus anderen Mitgliedstaaten stärker behindert als für inländische Erzeugnisse; die Regelung stelle daher eine Beschränkung des freien Warenverkehrs dar.

Grundsätzlich seien „traditionelle Apotheken“ besser als Versandapotheken in der Lage, „Patienten durch ihr Personal vor Ort individuell zu beraten und eine Notfallversorgung mit Arzneimitteln sicherzustellen“. „Da Versandapotheken mit ihrem eingeschränkten Leistungsangebot eine solche Versorgung nicht angemessen ersetzen können, ist davon auszugehen, dass der Preiswettbewerb für sie ein wichtigerer Wettbewerbsfaktor sein kann als für traditionelle Apotheken, weil es von ihm abhängt, ob sie einen unmittelbaren Zugang zum deutschen Markt finden und auf diesem konkurrenzfähig bleiben“, heißt es im Urteil. Angesichts des deutschen Fremdbesitzverbots sei das Internet sogar der einzige Zugang für ausländische Kapitalgesellschaften.

Laut EuGH kann die Preisbindung nicht mit dem Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen gerechtfertigt werden – auch wenn diese den höchsten Rang einnehmen und die Einschätzung darüber, auf welchem Niveau der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gewährleistet und wie dieses Niveau erreicht werden soll, eigentlich den Mitgliedstaaten vorbehalten sein soll. „Da sich dieses Niveau von einem Mitgliedstaat zum anderen unterscheiden kann, ist den Mitgliedstaaten ein Wertungsspielraum zuzuerkennen“, räumen die Richter ein. „Insbesondere kann das Erfordernis, die regelmäßige Versorgung des Landes für wichtige medizinische Zwecke sicherzustellen, eine Behinderung des innergemeinschaftlichen Handelsverkehrs […] rechtfertigen, da dieses Ziel unter den Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen fällt.“

Nach diesem Bekenntnis fegen die Richter aber alle im Verfahren vorgetragenen Argumente vom Tisch: Die erforderlichen Beweise zur Rechtfertigung einer Beschränkung müssten in jedem Einzelfall beigebracht werden. „Die Rechtfertigungsgründe, auf die sich ein Mitgliedstaat berufen kann, müssen daher von einer Untersuchung zur Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit der von diesem Mitgliedstaat erlassenen Maßnahme sowie von genauen Angaben zur Stützung seines Vorbringens begleitet sein.“

Richter müssten bei entsprechenden nationalen Regelung „mit Hilfe statistischer Daten, auf einzelne Punkte beschränkter Daten oder anderer Mittel objektiv prüfen“ können, ob die Beweise ausreichen, um eine Einschränkung des freien Warenverkehrs zu rechtfertigen.

Im Verfahren sei die Notwendigkeit der Gewährleistung einer flächendeckenden und gleichmäßigen Versorgung mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln in ganz Deutschland „nicht in einer Weise untermauert worden“, die den Ansprüchen genüge. Insbesondere werde „nicht dargetan, inwiefern durch die Festlegung einheitlicher Preise für verschreibungspflichtige Arzneimittel eine bessere geografische Verteilung der traditionellen Apotheken in Deutschland sichergestellt werden kann“.

„Ganz im Gegenteil legen einige Unterlagen […] nahe, dass mehr Preiswettbewerb unter den Apotheken die gleichmäßige Versorgung mit Arzneimitteln dadurch fördern würde, dass Anreize zur Niederlassung in Gegenden gesetzt würden, in denen wegen der geringeren Zahl an Apotheken höhere Preise verlangt werden könnten“, heißt es im Urteil.

So habe die Bundesregierung keine Beweise vorgelegt, dass der Preiswettbewerb dazu führe, dass „wichtige Leistungen wie die Notfallversorgung in Deutschland nicht mehr zu gewährleisten wären, weil sich die Zahl der Präsenzapotheken in der Folge verringern würde“. Traditionelle Apotheken hätten andere Vorteile, um „im Wettbewerb mit dem Versandhandel auf dem deutschen Markt konkurrenzfähig zu bleiben“.

Die Wahrnehmung bestimmter Gemeinwohlverpflichtungen wie die Herstellung von Rezepturarzneimitteln und die Bereitstellung eines gewissen Vorrats und Sortiments an Arzneimitteln durch die traditionellen Apotheken sei ebenfalls nicht in Gefahr: Wie der Generalanwalt ausgeführt habe, könnte sich im Gegenteil herausstellen, dass „für die traditionellen Apotheken, wenn sie sich einem Preiswettbewerb der Versandapotheken gegenübersehen, ein Anreiz bestünde, solche Aktivitäten zu entfalten“.

Auch der Hinweis, dass Patienten versuchen könnten, Druck auf Ärzte auszuüben, um Wunschverschreibungen zu erhalten, erweise sich nicht als ein genügender Beleg.

Das Argument von Wettbewerszentrale und Bundesregierung, dass sich der Patient, der sich in einem gesundheitlich geschwächten Zustand befinde, nicht veranlasst sehen dürfe, erst eine Marktanalyse durchzuführen, um die Apotheke zu ermitteln, die das gesuchte Arzneimittel zum günstigsten Preis anbiete, lässt der EuGH ebenfalls nicht gelten: Das Bestehen einer tatsächlichen Gefahr für die menschliche Gesundheit sei „nicht anhand allgemeiner Überlegungen, sondern auf der Grundlage von relevanten wissenschaftlichen Untersuchungen zu beurteilen“. „Die insoweit vorgetragenen sehr allgemeinen Überlegungen reichen zum Nachweis der tatsächlichen Gefahr für die menschliche Gesundheit, die sich daraus ergeben soll, dass der Verbraucher versuchen kann, sich zu einem geringeren Preis mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln zu versorgen, in keiner Weise aus.“

Vielmehr könne ein Preiswettbewerb den Patienten Vorteile bringen, da „verschreibungspflichtige Arzneimittel in Deutschland gegebenenfalls zu günstigeren Preisen angeboten werden könnten, als sie derzeit von diesem Mitgliedstaat festgelegt werden“. „Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, verlangt nämlich ein wirksamer Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen unter anderem, dass Arzneimittel zu angemessenen Preisen verkauft werden.“

Die Richter weisen darauf hin, dass sie bei der Beurteilung der Preisbindungsregelung nicht auf weitere nationale Maßnahmen wie das Fremd- und Mehrbesitzverbot geachtet haben, die ebenfalls dem Ziel dienten, in Deutschland eine sichere und qualitativ hochwertige Versorgung mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln sicherzustellen.