Apothekenschließung

„Die letzten Wochen war ich in der Apotheke ganz allein“ Torsten Bless, 10.07.2018 15:02 Uhr

Berlin - 

Doris Brunner hat nahezu alles Ungemach durchlebt, was einer Apothekerin widerfahren kann: Wichtiges Personal nahm den Hut. Konkurrenz machte sich breit. Stammkunden starben weg, Laufkunden blieben aus. Als sie den Schlussstrich ziehen wollte, legte ihr der Vermieter noch Steine in den Weg. Wenigstens ihre Einrichtung findet in Burundi eine neue Heimat. Sie selbst braucht noch eine Weile zur persönlichen Neuorientierung.

Die Ried-Apotheke machte vor 52 Jahren in einem vornehmlich von Aussiedlern geprägten Konstanzer Viertel auf. Bei ihrem Start in den Pharmazeutenberuf vor 30 Jahren lernte Brunner sie erstmals kennen. Vor 17 Jahren kaufte sie die Apotheke von der Witwe des ersten Inhabers. „Lange Jahre lief sie absolut problemlos“, erzählt die Inhaberin. Bis sich vor drei Jahren mit einer Kündigung eine so nicht vorherzusehende Lawine in Gang gesetzt habe. „Auf eine altgediente PTA konnte ich mich immer verlassen“, erzählt die Apothekerin. „Ich dachte, sie würde so lange arbeiten wie ich. Eines Tages hörte ich im Radio, dass jetzt Beschäftigte mit 63 in Rente gehen könnten, wenn sie mindestens 40 Berufsjahre absolviert hätten. Das nahm meine PTA für sich in Anspruch.“

Als Ersatz habe sie eine Apothekerin, eine PTA-Auszubildende und später eine PTA in Teilzeit eingestellt, so Brunner. Keine befriedigende Lösung, wie sich herausstellen sollte: „Die Apothekerin kam direkt von der Uni, ich musste sie mit viel Mühe einarbeiten.“ Als sie das Gefühl gehabt habe, jetzt sei ihre junge Kollegin für mehr Verantwortung bereit, seien Einwände gekommen: „Da hieß es auf einmal, sie möchte Freitagnachmittag nicht arbeiten, Samstag schon mal gar nicht, weil dann keine Kindergärten geöffnet hätten. Schließlich kündigte sie mir.“ Ihr folgte die Teilzeit-PTA, die Auszubildende setzte die Apothekerin wegen mangelnder Leistungen selbst vor die Tür. „Das ging bis vor das Arbeitsgericht.“

Viele Jahre konnte sich die Ried-Apotheke auf die Rezepte der im Haus ansässigen Praxis verlassen. „Im Januar 2017 kam der Arzt aus seinem Urlaub nicht mehr zurück“, berichtet Brunner. „‘Wegen Krankheit geschlossen‘, stand auf einem Zettel. In der Apotheke dachte ich laut vor mich hin, ‚wenn der nicht wieder kommt, dann wird es eng‘.“ Das habe ihre noch verbliebene angestellte Pharmazeutin mitbekommen. „Sie bekam Panik, weil sie zuvor schon in zwei anderen Apotheken gearbeitet hatte, die nacheinander pleite gegangen waren. Sie wurde quasi abgeworben und ist bei einem befreundeten Apotheker gelandet.“

Überhaupt sei es mit Freundschaften unter Apothekenbesitzern nicht immer gut bestellt, so Brunner. „Mit einem Kollegen war ich gemeinsam im Tanzclub. Da eröffnete er im September 2016 eine neue Apotheke im nahe gelegenen Edeka-Center", erzählt sie. „Das Einkaufszentrum hat viele Parkplätze vor der Tür und eine Sparkassenfiliale. Viele Bankkunden brauchten jetzt nur noch mit der Rolltreppe rauf zur Apotheke fahren und nicht mehr den Umweg zu uns in Kauf nehmen. Das konnte ich sogar verstehen.“ Zuerst habe sie befürchtet, womöglich als Erste schließen zu müssen. „Stattdessen machten zwei andere Apotheken im Umkreis von 200 Metern dicht. Da erwachte in mir der Kampfgeist, ich dachte mir, ‚diese Schmach gebe ich mir nicht!‘“

Doch gegen den schleichenden Bevölkerungswandel in ihrem Viertel sei auch sie machtlos gewesen. „Meine allerliebsten Kunden kamen schon mit Gründung der Apotheke ins Viertel, ich lernte sie vor 30 Jahren kennen“, so Brunner. „Mit der Zeit wurden sie älter, viele von ihnen starben in den vergangenen zwei, drei Jahren. Ich kam aus dem Trauerkartenschreiben gar nicht mehr heraus.“ Sie beobachte einen Generationswechsel. „Die Wohnungen rund meine Apotheke werden renoviert und aufgepeppt. Hier ziehen ganz viele junge Familien ein, die natürlich nicht so viel aus der Apotheke brauchen.“ So habe sich die Zahl der Stamm- wie Laufkunden stetig dezimiert. Auch der Arzt sei nicht mehr zurückgekommen, seine Rezepte dauerhaft ausgeblieben.

Gerettet worden sei die Apothekenbilanz wenigstens noch durch die Personalknappheit: „Mein Steuerberater sagte mir, durch die Kündigung meiner Apothekerin hätte ich im letzten Jahr 42.000 Euro weniger Personalkosten“, so Brunner. „Wenn ich meine Mitarbeiterinnen behalten hätte, hätte ich quasi zum Nulltarif gearbeitet.“ Schweren Herzens entschloss sie sich, die Apotheke zum 30. Juni aufzugeben. Sie reichte die Kündigung beim Wohnungsbauunternehmen Wobak ein. Der Vermieter habe ihr auf dem letzten Metern noch Steine in den Weg gelegt: „Mein Vertrag verpflichtete mich zum vollständigen Rückbau der Räume in ihren ursprünglichen Zustand.“ Das sei geradezu aberwitzig nach 52 Jahren Apothekenbetrieb, aber der zuständige Mitarbeiter sei unbarmherzig geblieben. „Ich dachte, ich werde noch verrückt.“

Über dem Stress sei ihr auch noch die letzte verbliebene PTA abhanden gekommen: „Sie reichte Anfang Mai eine Krankmeldung ein, die letzten Wochen war ich in der Apotheke ganz allein.“ Die Freude am Beruf sei ihr ohnehin schon abhanden gekommen, bekennt Brunner: „Wenn ich mich mit Rabattverträgen herumschlagen musste oder wieder Retaxationen bekam, hab ich mir gedacht: ‚Gott sei Dank ist die Scheiße bald vorbei‘.“

Wenigstens für ihre Apotheken- und Laboreinrichtung gab es ein schönes Happy-End. Das Theater Konstanz mit seinem Intendanten Christoph Nix will gemeinsam mit dem Verein Burundikids eine Apotheke in Burundi aufbauen. So soll die einheimische Bevölkerung kostengünstig mit den nötigsten Basismedikamenten versorgt werden und gleichzeitig ein Lehrbetrieb für angehende Pharmazeuten entstehen. „Burundikids war ganz begeistert von meinen Ziehschränken“, freut sich die Inhaberin. Das Theater trommelte 20 Helfer für den Abbau zusammen. Unter den Freiwilligen fanden sich auch Brunners ehemals schärfste Konkurrenten. „Über diese Aktion haben wir uns wieder versöhnt, da hatte die Schließung schon etwas Gutes.“

Derzeit sei sie mit der Abwicklung der Apotheke noch voll und ganz beschäftigt. „Danach will ich in diesem Jahr nicht mehr arbeiten. Aber Personalknappheit herrscht überall, wenn ich will, werde ich keine Probleme haben, irgendwo eine Stelle als Urlaubsvertretung zu finden.“ Jetzt sei erst mal eine private Neuorientierung fällig: „Die vergangenen drei Jahre schafften mich körperlich und seelisch so sehr, dass ich viele soziale Kontakte verloren habe, darunter auch meine letzte Beziehung. Ich muss lernen, dass es auch ein Leben nach der Apotheke gibt.“ Sie gehe wieder zum Tanzen. Für den Oktober habe sie eine Abenteuerreise zu wilden Affen und geheimnisvollen Tempeln in den japanischen Alpen gebucht. „Ich habe schon eine Einladung von Burundikids bekommen. Wenn ich fit genug bin, werde ich ansehen, was dann aus meiner Apotheke geworden ist.“