Pharmakogenetik

Apotheker umwirbt „Gen-Angsthasen“ Silvia Meixner, 07.05.2018 08:11 Uhr

Berlin - 

In keinem anderen Land der Welt haben die Menschen mehr Angst vor einer Gendiagnostik als in Deutschland – sagt der Apotheker Benjamin Seibt. Er hat 2014 in Bonn die Firma Dr. Seibt Genomics gegründet. In seinem Labor kann man unter anderem herausfinden lassen, wie der eigene Körper Arzneimittel verstoffwechselt, und anschließend seine Therapie optimieren.

„Die Pharmakogenomik liegt mir als Apotheker besonders am Herzen“, sagt Seibt. „Die Standarddosis kann bei einem Patienten zu keinen Erfolgen führen, bei einem anderen sogar toxisch sein.“ Bei anderen wiederum hilft das Medikament wie erhofft. „39 Prozent der Menschen verstoffwechseln Medikamente normal, bei den übrigen, das belegen Studien, müsste eine Anpassung stattfinden.“ Mit einer Genanalyse könnte jeder herausfinden, warum die Beschwerden nicht besser werden.

„Besonders wichtig ist es bei Antidepressiva“, sagt der Apotheker, „denn sie brauchen lange Zeit, bis sie anfangen zu wirken. Ein Psychiater kann das nicht wie beim Blutdruck messen. Es ist schwierig zu sagen, ob die Antidepressiva wirken oder nicht. Wir analysieren 16 verschiedene Wirkstoffe, der Arzt kann entscheiden, ob er die Dosis, so wie von uns vorgeschlagen, anpassen möchte.“

Im Zuge seiner Arbeit hat er viele Psychiater befragt: „Sie haben mir erzählt, dass die durchschnittlich zwei bis vier Arzneimittel pro Patient austesten. Das ist erschreckend. Wenn man schon im Labor erkennen kann, dass der Patient ein Nonresponder ist, warum sollte man ihm das Medikament dann geben?“

Nicht alle Ärzte teilen Seibts Vorstellung der perfekten Medikation. „Viele sagen, das haben wir immer schon so gemacht, warum sollten wir es ändern. Andere wiederum sind sehr aufgeschlossen.“ An Skepsis ist der Apotheker gewöhnt: „Es ist eben ein junges Forschungsgebiet. Bei Patienten ist kaum Basiswissen vorhanden, bei Ärzten und Apothekern wird es endlich langsam ein Thema.“

Für sein Unternehmen macht der 32-Jährige weltweit Werbung, war in vielen Ländern unterwegs, unter anderem auf Reisen, die das Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) für mittelständische Unternehmen organisiert. Er hat festgestellt: „In allen Ländern, von Indien bis Brasilien, sind die Menschen Genanalysen gegenüber aufgeschlossener als in Deutschland.“ Dass die Deutschen diesbezüglich Angsthasen sind, erklärt er sich so: „Das Wort Gen ist bei uns negativ besetzt und wird mit ‚bösen‘ Begriffen wie Genmais oder Genmanipulation in Verbindung gebracht. Damit hat unsere Arbeit aber gar nichts zu tun. Wir entschlüsseln, aber verändern nichts.“

Besonders wichtig ist dem Unternehmer, der das erste Geld seines Start-Ups mittels Crowdfunding eingesammelt hat und dann einen Bankkredit bekam, das Thema Sicherheit. Er hat nämlich am eigenen Leib erfahren, wie es ist, wenn das Ergebnis der eigenen Gen-Analyse im Netz herumflattern und für viele zugänglich sind. „Ich hatte eine Analyse bei einem US-Unternehmen in Auftrag gegeben, damals lebte ich in Australien, sie dachten also, ich wäre Australier“, erzählt er. „Wenig später meldete sich eine Frau bei mir, die mir mitteilte, dass sie eine Cousine dritten Grades von mir sei.“ Eine hübsche Idee, aber leider eine Fehlmeldung: „Sie hatte falsche Infos, denn ich habe keine Vorfahren in den USA, die Frau hat keine in Europa. Sie hatte meine Daten auf der Website des US-Unternehmens gefunden, die frei zugänglich waren.“

Er war geschockt: „Es hat drei Monate gedauert, bis es mir gelang, meine Daten offline zu stellen.“ Die Lehre für sein eigenes Unternehmen: „Wir arbeiten nicht mit Cloud-Systemen, alle Daten werden bei uns ausschließlich auf Offline-Servern gespeichert. Die Ergebnisse bekommen nur der behandelnde Arzt und Patienten.“ Fest steht leider: „Es gibt keinen 100-prozentigen Schutz, aber wir tun alles, um die Daten unserer Kunden zu schützen.“ Im Zuge seiner Bemühungen, seine Gen-Daten wieder offline zu stellen, erfuhr er: „Das Unternehmen hatte die Daten von 3000 Patienten für rund 60 Millionen Dollar verkauft – und sie waren nicht einmal anonymisiert.“

Eigentlich ist es eine schöne Vorstellung: Man schickt eine Speichelprobe an ein Labor und bekommt zuverlässig Auskunft darüber, wie hoch das Risiko ist, zum Beispiel an Krebs oder Alzheimer zu erkranken und ob man in ein paar Jahren möglicherweise an Thrombosen leiden wird. Eines fernen Tages, irgendwann. Man könnte präventiv an seiner Gesundheit arbeiten, sich vom Arzt beraten lassen, was im Einzelfall vernünftig sein könnte.

Auch für Brustkrebspatientinnen kann ein DNA-Test, der 390 Euro kostet, Sinn machen. „Bei jeder zweiten Frau, die an Brustkrebs erkrankt ist, zeigt das am häufigsten verabreichte Arzneimittel Tamoxifen nicht die gewünschte Wirkung“, sagt Seibt. Er erklärt: „Das Medikament ist für zahlreiche Onkologen die erste Wahl, aber es stoppt die Krebszellen häufig nicht, weil die Erkrankte nicht über das notwendige Enzym verfügt.“ Auf seiner Website hat er diesbezüglich statistische Zahlen veröffentlicht. Demnach sind 7 Prozent der Patientinnen „langsame Metabolisierer“, das bedeutet, dass Tamoxifen keine Wirksamkeit hat. Bei 40 Prozent (intermediäre Metabolisierer) liegt eine verminderte Wirksamkeit vor, bei 50 Prozent (normale Metabolisierer) eine normale Wirksamkeit. Und bei den übrigen 3 Prozent (verstärkte Metabolisierer) wurde eine verstärkte Wirksamkeit beobachtet.

Die DNA-Tests kann man online bestellen oder in jeder Apotheke ordern. Es gibt sie in drei Kategorien: DNA und Krankheiten, DNA und Arzneimittel und DNA und Ernährung. „Laut Gendiagnostikgesetz muss bei allen Untersuchungen der Kategorien Krankheiten und Arzneimittel eine ärztliche Beratung stattfinden und der Patient muss vor der genetischen Analyse eine schriftliche Einwilligung abgeben“, sagt Seibt. Am besten verkauft sich derzeit die sogenannte „Lifestyle-Diagnostik“, bei der Patienten Informationen darüber bekommen, wie sie sich aufgrund ihrer Gene gesund ernähren und Gewicht reduzieren können. „Sie erhalten Tipps für eine gesunde Lebensweise. Mithilfe der prädiktiven Gendiagnostik ermitteln wir, welche Nahrungsmittel ein Mensch verträgt und welche – zum Beispiel Gluten, Laktose, Fruktose – für ihn unverträglich sind“, erklärt der Apotheker.

Die Inspiration, ein Gen-Labor zu eröffnen, bekam Seibt 2013 in San Francisco. Dort lernte er einen älteren Herrn aus Deutschland kennen, der ihm erzählte, dass er seinen Lebensabend gern genau planen wolle. Wenn er nur wüsste, welche Krankheiten er bekommen würde!

„Ich sagte, das wäre möglich, er fragte, wo. Da ist mir aufgefallen, dass es einen Bedarf an den Untersuchungen gibt. Wir erforschen so viel, aber der Transfer ist ausbaufähig.“ Von seinem ursprünglichen Lebensplan, als Apotheke in einer Offizin zu stehen, rückte Seibt unverzüglich ab. Er schrieb einen Businessplan für das Unternehmen samt Hightech-Labor und stürzte sich ins Start-up.