Johnson kassiert Handy

Streit um britischen Gesundheitsdienst

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London -

Das britische Gesundheitswesen ist chronisch überlastet. Tausende Patienten sind einer Studie zufolge dadurch in den letzten Jahren gestorben. Ob sich an den Zuständen nach der Wahl etwas ändert?

Ein stundenlang auf dem Fußboden eines britischen Krankenhauses liegendes Kind hat die Debatte um den maroden Gesundheitsdienst NHS kurz vor der Parlamentswahl befeuert. Als ein Reporter des Fernsehsenders ITV ein Bild vom Jungen dem Premier Boris Johnson zeigte und um Stellungnahme bat, kassierte der kurzerhand das Handy ein. Erst auf Protest des Journalisten gab Johnson das Handy wieder zurück und sprach von einem „schrecklichen, schrecklichen Bild“.

Eine am Dienstag veröffentlichte Studie enthüllte zudem, dass die Engpässe im Gesundheitsdienst zu Tausenden Todesopfern führen. Nach der Untersuchung, über die der „Guardian“ in Auszügen berichtete, starben insgesamt 5449 Menschen seit 2016 in England, nur weil sie zu lange in Notfallaufnahmen warten mussten. Die Wartezeiten betrugen demnach zwischen sechs und elf Stunden. Eine Patientenorganisation sprach von „sehr besorgniserregenden Ergebnissen“.

Die Studie war von NHS-Ärzten erstellt worden. Der vierjährige Jack lag mehrere Stunden auf Jacken auf dem Boden der Klinik in Leeds, obwohl bei ihm Verdacht auf eine Lungenentzündung bestand. Johnson sagte nach dem Vorfall am Montag, er habe sich bei den Eltern entschuldigt. Der „Mirror“ berichtete am Dienstag von einem ähnlichen Fall eines Babys, das an Durchfall und einer Ohrenentzündung litt, in einem anderen Krankenhaus. Es gebe nicht genug Betten, Krankenschwestern und Geld, kritisierte die Mutter.

Der NHS (National Health Service) zählt – neben dem Brexit – zu den Topthemen des Wahlkampfes. Die Briten wählen am Donnerstag ein neues Parlament. Johnson führt eine Minderheitsregierung an und will sich mit der Neuwahl mehr Unterstützung für sein Brexit-Abkommen sichern. Nach wie vor haben die Konservativen in Umfragen die Nase vorn. Doch Johnson kann sich eines Sieges aufgrund des Mehrheitswahlrechts in Großbritannien nicht sicher sein: In vielen Wahlkreisen liefern sich seine Tories und die Labour-Partei ein sehr enges Rennen.

Sowohl Johnson als auch die Oppositionsparteien haben zugesagt, im Falle eines Wahlsiegs wesentlich mehr Geld in den NHS zu pumpen. Der Ärzteverband Royal College of Physicans, der mehr als 35 000 Mediziner vertritt, bezeichnete die Versprechen aller Parteien als unglaubwürdig. Es fehle zum Beispiel an ausgebildetem Personal. Der NHS wird hauptsächlich aus Steuergeldern finanziert. Vor allem in den Wintermonaten, wenn etwa Erkrankungen wie Grippe hinzukommen, kann der Gesundheitsdienst oft nicht mehr den Ansturm von Patienten bewältigen.

Termine bei Hausärzten sind nur schwer zu bekommen, es mangelt an Klinikbetten. Sogar die Polizei musste schon mit Fahrzeugen einspringen, um Patienten in Krankenhäuser zu bringen, weil nicht genug Rettungsfahrzeuge zur Verfügung standen. Punkten auf den letzten Metern im Wahlkampf konnte Johnson hingegen mit einer an den Liebesfilm „Love Actually“ angelehnten Werbung. In dem über Twitter verbreiteten Beitrag spielt er eine Schlüsselszene nach: Ein Mann gesteht mit Botschaften auf Pappschildern der Frau eines Freundes seine Liebe.

Der Film, in Deutschland unter dem Titel „Tatsächlich ... Liebe“ bekannt, kam im Jahr 2003 in die Kinos. Johnson macht sich die Szene zu eigen: Er klingelt in dem Beitrag zur Weihnachtszeit an der Haustür einer Frau und bittet sie mit Hilfe von Botschaften auf Schildern, seine Partei zu wählen („Vote Conservative actually“). Auf einem Schild heißt es in Anspielung auf Labour-Chef Jeremy Corbyn: „Der andere könnte gewinnen.“

Der Beitrag mit Weihnachtsflair, Bezug zum Film und einem Seitenhieb auf Hugh Grant, der im Original eine der Hauptrollen spielt, fand viel Lob. Grant ist einer der schärfsten Kritiker Johnsons und unterstützt Kandidaten von Oppositionsparteien. Er zieht mit ihnen von Haustür zu Haustür, um die Briten zum taktischen Wählen zu animieren. In einem BBC-Interview am Dienstag mutmaßte Grant, das hochwertig hergestellte Video sei mit Hilfe russischer Wahlkampfspenden bezahlt worden.

Damit spielte er auf den von der Regierung unter Verschluss gehaltenen Bericht des Geheimdienstausschusses über russische Einmischung in die britische Politik an. Kurz nachdem Johnson seinen Beitrag getwittert hatte, meldete sich die Labour-Kandidatin Rosena Allin-Khan zu Wort und warf Johnson vor, ihre Idee für die Wahlwerbung geklaut zu haben. Auch sie hatte die Schlüsselszene des Liebesfilms nachgeahmt – aber für Labour damit geworben. Sie hatte ihren Beitrag am 22. November veröffentlicht.

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