Kanada

Apotheker inszeniert Überfall auf sich selbst

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Berlin -

Die sogenannte Opioid-Epidemie, die weiterhin in Nordamerika grassiert, macht nicht nur Süchtige zu Opfern, sondern auch immer häufiger Apotheker. Die Überfälle auf Offizinen haben in den letzten Jahren zugenommen. Im kanadischen Ottawa wurde nun allerdings ein Apotheker selbst zu einer langen Haftstrafe verurteilt, nachdem er ausgeraubt wurde – denn der Überfall war fingiert und die Ermittlungen brachten weitaus Beunruhigenderes zutage. Recherchen haben nun schwere Mängel in der staatlichen Überwachung in Kanada belegt.

Mit einer Clownsmaske war der Räuber verkleidet, der im Oktober 2014 in die IDA Pharmacy spazierte. Mit einem Messer bedroht er Apotheker Waseem Shaheen und reicht ihm einen Zettel: Er will die Fentanyl-Pflaster aus dem Betäubungsmittelschrank. Shaheen befolgt die Order, er öffnet den Safe, packt hunderte Pflaster in eine Mülltüte und reicht sie dem Räuber. Der verschwindet, so schnell wie er gekommen war, und Shaheen ruft die Polizei. Der wiederum kann er nicht viel erzählen: Er hat weder das Gesicht des Räubers gesehen, noch seine Stimme gehört, noch den Fluchtwagen gesehen. Die Polizei tappt im Dunkeln, normalerweise werden solche Fälle mangels Erfolgsaussichten nicht weiter verfolgt und zu den Akten gelegt.

Doch in diesem Fall haben die Ermittler das Gefühl, dass etwas faul ist. Eine PTA der Apotheke gibt den entscheidenden Tipp: Ihr waren die ungewöhnlich großen Fentanyl-Lieferungen aufgefallen. Die Polizei wirft einen genaueren Blick in die Bücher und entdeckt Unregelmäßigkeiten, große Unregelmäßigkeiten. Der Apotheker hatte 1500 offensichtlich gefälschte Rezepte ausgefüllt – und zwar auf einen einzigen Namen: Mehdi Rostaee.

Die Polizei findet den Mann und was er ihnen zu bieten hat, schockiert die Polizisten: Er gibt den Ermittlern ein mit dem Smartphone heimlich mitgeschnittenes Gespräch zwischen ihm und Shaheen. In einem McDonald‘s hatten sie sich getroffen und Shaheen hatte ihm den Plan mit dem fingierten Überfall offenbart.

Der Apotheker hatte kalte Füße bekommen, weil er tausende Fentanylpflaster auch ohne Rezept abgegeben hatte, unter der Theke gegen Cash. Er hatte Angst, dass die Fehlbestände früher oder später auffallen würden. Deshalb suchte er die Flucht nach vorn: Ein Überfall würde erklären, wo die vielen Betäubungsmittel abgeblieben waren. Doch der Plan ging schief, die zuvor belieferten gefälschten Rezepte brachten die Ermittler auf die richtige Fährte. Ein Gericht verurteilte Shaheen für die illegale Abgabe von mindestens 5000 Einheiten Fentanyl mit einem Straßenverkaufswert von rund 1 Million Kanadischer Dollar (660.000 Euro) zu 14 Jahren Haft, wie kanadische Medien berichten. Seine Approbation wurde ihm aberkannt, die Betriebserlaubnis auf Lebenszeit entzogen.

„Als ausgebildeter Fachmann wusste er Bescheid über die verheerenden und tödlichen Folgen dieser Medikamente in den Händen von Abhängigen. Und dennoch hat er sich auf diese Form des Drogenhandels eingelassen und über eine Million Dollar am Elend anderer verdient“, zitiert die Tageszeitung „Toronto Star“ Shaheens Richter.

Doch der Fall wirft auch nach dem Urteil weitere Fragen auf. Wie konnte es sein, dass die Behörden nicht früher merkten, was in Shaheens Offizin vor sich ging? Die Aufsichtsbehörden der Provinz Ontario überwachen die Auslieferung und Abgabe von Opioiden, nicht zuletzt aufgrund der weiterhin zunehmenden Suchtproblematik. Die Zahl der Todesfälle durch Opioid-Überdosen ist Zahlen der Regierungsbehörde Public Health Ontario drastisch gestiegen: von 693 im Jahr 2013 auf 1267 im Jahr 2017. Dabei habe es sich in rund 70 Prozent der Fälle um den missbräuchlichen Konsum von Fentanyl gehandelt. Dennoch sind kanadische Großhändler bisher nicht verpflichtet, ungewöhnlich große Bestellungen von Opioid-haltigen Schmerzmitteln durch einzelne Abnehmer zu melden.

Und mehr noch: Das Ontario College of Pharmacists, das die Funktionen der Apothekerkammer in der Provinz innehat, hat im gleichen Zeitraum Disziplinarverfahren gegen 241 Apotheker eingeleitet, die schwerste Abgabefehler oder Rezeptbetrug begangen sowie sich anderer Vergehen schuldig gemacht haben. 15 von ihnen wurden die Approbationen entzogen, weil sie Opioide gegen Bargeld ohne Rezept abgegeben hatten.

Health Canada ist jedoch überzeugt, dass das Problem weitaus umfassender ist. Rund 3,5 Millionen Dosen verschreibungspflichtiger Medikamente sind der Bundesbehörde zufolge innerhalb der letzten fünf Jahre verschwunden, der Großteil davon Opioide. Und die Zunahme sei erschreckend: von 2200 Fällen 2013 auf mehr als 30.000 im Jahr 2017. Doch wie Recherchen mehrerer kanadischer Medien nun aufdeckten, haben die Aufsichtsbehörden der Provinz Ontario trotz der Meldepflichten in diesen fünf Jahren keinen einzigen Fall aufgedeckt, in dem Opioide illegal abgegeben wurden.

Neun Apotheker, die in Ontario illegal mit Opioiden dealten, waren in den letzten fünf Jahren aufgefolgen – ausnahmslos alle durch gute Polizeiarbeit oder eigene Fehler. Dabei gibt es ein Überwachungssystem speziell für den Vertrieb von Opioiden: das Norcotics Monitoring System, das laut Behörde „den Missbrauch, Fehlgebrauch und die Entwendung von Betäubungsmitteln entdecken und verhindern soll“. Doch auch hier gilt wie bei der Provinzbehörde, die Zahl der bisher aufgedeckten Fälle beträgt: Null.

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