Nord-Apotheke in Gießen schließt

Zum Abschied weinen die Kunden

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Berlin -

Die Kunden weinen. „Wie können Sie das machen?“ Heute öffnet die Nord-Apotheke in Gießen zum letzten Mal. Die Menschen verlieren nicht nur ihre Anlaufstelle für Medikamente, sondern auch eine Apothekerin mit Herz: Ingrid Quambusch hätte noch gern ein paar Jahre weitergemacht, aber der Vermieter setzte ihr das Messer auf die Brust.

In den vergangenen Wochen hat sie viele Tränen getrocknet. Und auch so manche geweint. „Unser Standort befindet sich an einem sozialen Brennpunkt der Stadt“, sagt Quambusch. „Für viele Menschen sind wir hier eine Anlaufstelle, wenn sie Probleme aller Art haben.“

Der Metzger, der sich fast den Finger abhackte – erst mal zu Frau Quambusch. Ratlose Menschen, die Hilfe bei Behördengängen brauchen – erst mal in die Nord-Apotheke. Und was genau hat eigentlich der Arzt gemeint? Alles ging so schnell. Die Apothekerin ist geduldig, nahm sich immer gern Zeit, erklärte Laborwerte, wusste, wo man welchen Antrag stellen muss. Und wie genau geht das mit diesem Internet? Älteren Kunden waren die Mitarbeiter der Nord-Apotheke gern behilflich. Auch für Homöopathie war die Nord-Apotheke eine beliebte Anlaufstelle.

Jetzt machen die Pläne des Vermieters ihrem Unternehmen den Garaus. „Mein Mietervertrag läuft aus und die Eigentümerfirma Vonovia will nicht weiter vermieten, sondern verkaufen. Ich habe dankend abgelehnt. In meinem Alter kauft man keine Immobilie mehr“, sagt die 65-Jährige.

 

„Hier leben viele ältere Menschen“, erzählt sie. „Die Stadt Gießen hat hier nach dem Zweiten Weltkrieg viele Wohnungen gebaut, die Bewohner sind damals jung eingezogen und werden jetzt schön langsam alt.“ Viele sind einsam, haben nur wenige soziale Kontakte. Dann gehen sie in die Apotheke. Mal schauen, was man sich erzählt, was es Neues gibt. „Diese Gespräche werden mir fehlen“, sagt sie.

Ihre drei Mitarbeiter waren geschockt, als sie von den Plänen ihrer Chefin erfuhren. „Mir war wichtig, dass sie nicht überrumpelt werden und es von mir persönlich erfahren. Alle werden mühelos eine neue Arbeit finden.“ Nach Ostern hängte sie ein Plakat ins Schaufenster, um ihre Kunden zu informieren. Einige hielten es für einen verspäteten Aprilscherz.

„Ich hätte gern noch weitergemacht“, sagt die Apothekerin. Trotz 60-Stunden-Wochen. Die Nord-Apotheke ist ein typisches Beispiel für die soziale Anker-Stelle, die eine Offizin oft erfüllt. Eine Kiez-Apotheke, die ihr Klientel genau kennt und gern bedient. „Man lässt oft viel Kraft, bekommt im Gegenzug aber auch viel Energie geschenkt.“

Ein paar Jahre hätte Quambusch, die die vor 60 Jahren gegründete Apotheke im Jahr 1999 übernahm, noch gearbeitet. Sie liebt ihren Beruf und würde ihn trotz all der negativen Aspekte jederzeit jungen Menschen ans Herz legen: „Ich habe Pharmazie studiert, weil mir Mathe, Physik und Biologie immer gut gefallen haben. Wenn jemand Spaß daran hat, würde ich es immer noch jedem empfehlen.“

Der Abschied hat durchaus auch positive Aspekte für sie. „Mir ist der zunehmende Bürokratismus einfach zu viel geworden“, sagt sie. „60 Prozent der Arbeitszeit eines Apothekers gehen für oganisatorische Tätigkeiten drauf.“ Ihr Mann erledigt die Buchhaltung, auch er ist froh, wenn er nichts mehr damit zu tun hat. „Es gibt einfach zu viel Verwaltung“, sagt die Apothekerin. Ihre Prognose: „Der Rx-Versandhandel wird uns den Rest geben.“

Der Mietvertrag läuft noch bis zum 31. Mai. „Wir müssen die Apotheke räumen. Ich weiß, wie man eine eröffnet, aber Schließung ist eine neue Erfahrung für mich.“ Die ganze Gewerbeeinheit muss geräumt werden. „Ich habe einen Apothekenentsorger beauftragt. Was er gebrauchen kann, nimmt er mit, der Rest wandert auf die Müllhalde.“ Dann gibt es wieder eine Apotheke weniger in Deutschland.

Einmal Apothekerin, immer Apothekerin. „Ich denke, ich werde auch weiterhin arbeiten“, sagt Quambusch. Tageweise, bei Kollegen. Eine Apothekerin mit Wissen und Herz ist immer gefragt.

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