Gerichtsverfahren

Mord an 99 Patienten: Prozessauftakt gegen Niels H.

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Oldenburg -

Ein Krankenpfleger tötete reihenweise Patienten. Wegen 99 Morden kommt er jetzt vor Gericht. Was treibt einen Menschen zu solchen Taten? Die Opfer der Familien hoffen auf Antworten.

Wahllos schlägt der Mörder zu. Seine Opfer sind Mütter, Ehemänner, Großväter. Doch eines haben sie alle gemeinsam: Sie liegen auf der Intensivstation, angeschlossen an piepsende Maschinen und Schläuche. Die meisten schlafen oder liegen im Koma. Wehrlose Menschen, die auf helfende Hände angewiesen sind. Doch ausgerechnet diese bringen ihnen den Tod. Als Krankenpfleger soll Niels H. in den Kliniken Oldenburg und Delmenhorst in Niedersachsen jahrelang Patienten umgebracht haben – so viele, dass die Ermittler von der wohl größten Mordserie in der deutschen Nachkriegsgeschichte sprechen.

Außergewöhnliche Dimensionen wird auch der Prozess gegen den 41-Jährigen haben. Wegen des Todes von 99 Menschen muss sich H. ab dem 30. Oktober vor dem Landgericht Oldenburg verantworten. Womöglich wird die Anklage auch noch erweitert – bei Befragungen durch einen Psychiater habe sich H. erst kürzlich an einen zusätzlichen Fall erinnert, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Oldenburg am Wochenende.

Auf den Tag des Prozessauftakts warten die Familien der Opfer seit Jahren. 119 Nebenkläger wollen dem mutmaßlichen Mörder der von ihnen geliebten Menschen endlich ins Gesicht blicken. „Es wird eine Achterbahn der Gefühle“, sagt Christian Marbach, der Sprecher der Nebenkläger. „Sie wollen, dass es endlich losgeht. Gleichzeitig haben sie auch Angst davor.“ Voraussichtlich zwei Stunden wird die Staatsanwältin brauchen, um die Anklage zu verlesen – den Namen jedes einzelnen Opfers und dessen Schicksal.

Für die Angehörigen werde wahrscheinlich erst in diesem Moment alles real und greifbar, meint Marbach. Der Diplom-Kaufmann weiß, wovon er spricht. Sein Großvater ist eines der Opfer von Niels H. Der Ex-Pfleger stand wegen des Todes von sechs Patienten bereits in zwei Verfahren vor Gericht, darunter war auch Marbachs Großvater. Seit 2015 sitzt der zu lebenslanger Haft verurteilte Ex-Pfleger im Gefängnis. Daran wird auch der neue Prozess nichts ändern. Trotzdem sind die Erwartungen groß.

„Da wird Rechtsgeschichte geschrieben in jeder Hinsicht“, sagt der Nebenklage-Anwalt Franz-Josef Averbeck. Wegen des großen Andrangs hat das Landgericht die Verhandlung in die Weser-Ems-Hallen in Oldenburg verlegt, wo Unternehmen normalerweise zu Tagungen, festlichen Banketten oder Bällen laden. An 23 Prozesstagen verwandelt sich der 700 Quadratmeter große Raum in einen Gerichtssaal: Fast 350 Menschen finden dort Platz. Etwa 200 der rotgepolsterten Stühle sind für Journalisten und Zuschauer reserviert.

Der Fall schockiert viele Menschen, nicht nur wegen der vielen Opfer. Schockierend daran ist auch, dass es jeden hätte treffen können. Fast jeder war selbst schon einmal im Krankenhaus oder hat dort Stunden am Bett von kranken Verwandten verbracht. Der Fall offenbart auch die Schwachstellen in den Kliniken. „Da sind viele gesellschaftliche Aspekte, die aufgearbeitet werden müssen“, meint Averbeck. Zwischen 2000 und 2005 soll H. nach Ansicht der Staatsanwaltschaft immer wieder Patienten ein Medikament gespritzt haben, das tödliche Nebenwirkungen hatte. Anschließend versuchte er, seine Opfer wiederzubeleben – was in vielen Fällen misslang. Er soll dies aus Langeweile getan haben und, um vor Kollegen mit seinen Wiederbelebungskünsten zu glänzen.

In beiden Krankenhäusern schöpften Kollegen Verdacht, schritten aber nicht ein, obwohl es nach Ansicht der Ermittler konkrete Hinweise auf die Taten gab. Vier frühere Kollegen von H. am Klinikum Delmenhorst werden sich deshalb wegen Totschlags durch Unterlassen vor Gericht verantworten müssen. Die Ermittlungen gegen fünf ehemalige Klinikmitarbeiter aus Oldenburg laufen noch.

Spannend wird, ob und wie ausführlich sich H. zu seinen mutmaßlichen Taten vor Gericht äußern wird. Bei Befragungen im Gefängnis hatte er die Vorwürfe weitgehend eingeräumt. „Er kann sich an vieles nicht erinnern. Aber das, woran er sich erinnert, hat er gestanden“, sagt Oberstaatsanwalt Martin Koziolek. Deshalb geht die Staatsanwaltschaft davon aus, dass er das Geständnis vor Gericht wiederholen wird. Das Landgericht hat vorsorglich vier bis fünf Verhandlungstage dafür eingeplant. Für den Vorsitzenden Richter Sebastian Bührmann wird es bereits das dritte Verfahren sein, dass er gegen Niels H. leitet. Dieses sei notwendig, damit die Angehörigen Gerechtigkeit erführen und Gewissheit über das Schicksal der Opfer bekämen, sagt er.

„Das ist der Sinn des Prozesses: Soweit wie möglich Klarheit zu schaffen.“ Und selbst wenn am Ende kein anderes Urteil als zuvor stehen wird, hat dieses doch auch juristische Konsequenzen, wie die Nebenklage-Anwältin Gaby Lübben betont. Eine lebenslange Haftstrafe bedeutet in Deutschland nicht zwangsläufig, dass jemand bis zu seinem Tod im Gefängnis sitzt. Nach einer bestimmten Zeit prüft eine Strafvollstreckungskammer, ob die Strafe ausgesetzt werden kann. „Jede nachgewiesene Tat verlängert seine Haft“, sagt Lübben. Bei mehr als 100 Morden könnte das möglicherweise bedeuten: auf eine sehr lange Zeit oder sogar für immer.

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