Arbeiten mit Handicap

Fast taub im HV

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Berlin -

Es ist geschafft: Carina Tenhaken aus Bochholt hat ihre PTA-Ausbildung erfolgreich abgeschlossen und arbeitet seit Juli in der Apotheke am Casinowall. Nichts Besonderes? Doch, wenn man berücksichtigt, dass die 25-Jährige fast taub ist.

Es wäre fast wieder vorbei gewesen, bevor es richtig angefangen hat: Als die junge Frau zur Berufsberatung zum Arbeitsamt ging und dort verriet, sie wolle PTA werden, riet ihr die Mitarbeiterin sofort davon ab. „Sie sagten, ich würde eine Ausbildung auf einer Regelschule niemals schaffen und sollte mir einen Beruf suchen, bei dem ich eine Förderschule besuchen kann“, berichtet sie. Gehört hat sie auf diesen Rat nicht.

Stattdessen hat sie sich mit ihren Eltern einige PTA-Schulen angesehen, sich informiert und an einigen Einrichtungen auch einen Tag lang in den Unterricht geschnuppert. „Es waren Schulen dabei, bei denen ich ein schlechtes Gefühl hatte, vor allem wegen der Akustik in den Räumen“, berichtet die heute 25-Jährige. Letztendlich habe sie sich an mehreren Schulen beworben und von der PTA-Schule in Gelsenkirchen auch sofort eine Zusage erhalten. Dort absolvierte sie auch ihre PTA-Ausbildung. „Es war das erste Mal, dass ich eine Regelschule besucht habe“, berichtet die Bocholterin. Ihre Grundschulzeit verbrachte sie an einer Schule für Sprachbehinderte in Wesel. Danach besuchte sie eine Realschule mit dem Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation in Dortmund, bevor sie ihr Fachabitur in Essen machte.

Während der Ausbildung habe es Höhen und Tiefen gegeben, gibt Tenhaken zu. Während sie an den Förderschulen in kleinen Gruppen lernte, bestand ihre PTA-Klasse zumindest am Anfang aus 40 Schülern. Erschwerend kam hinzu, dass etwas verlangt wurde, was sie so nicht kannte: Während des Unterrichts müssen PTA-Schüler zuhören und mitschreiben. Unmöglich für die fast taube junge Frau. Denn wenn sie schreibt, kann sie nicht mehr von den Lippen ablesen. Große Hilfe seien in der Zeit einige Mitschüler gewesen, die ihre Notizen zur Verfügung stellten. „Wenn ich sie nicht gehabt hätte, wäre es nicht möglich gewesen, dem Stoff zu folgen“, sagt sie heute dankbar.

Gerne hätte die angehende PTA mehr Unterstützung erhalten. „Einige Freunde, die auch hochgradig schwerhörig oder sogar gehörlos sind, haben Unterstützung durch einen Gebärdensprach- oder Schriftdolmetscher bekommen“, berichtet sie. Ihr Antrag sei allerdings von der zuständigen Behörde abgelehnt worden. Zu teuer.

Stattdessen habe sie eine FM-Anlage erhalten: Die Lehrer trugen dann ein kleines Gerät mit Mikrofon, Tenhaken einen Empfänger, der über Bluetooth mit ihrem Hörgerät verbunden war. „Das hat es mir schon ein bisschen erleichtert, die Lehrer zu verstehen“, sagt die Bocholterin. Auch Lehrkräfte hätten sich erst mit der Situation auseinandersetzen müssen, zum ersten Mal eine hörgeschädigte Schülerin an der Schule zu haben. „Es war am Anfang ziemlich problematisch, wurde aber mit der Zeit besser“, erinnert sie sich. Wenn Klausuren geschrieben wurden, hatte Tenhaken länger Zeit als ihre Mitschüler.

Nachdem Tenhaken ihre PTA-Ausbildung erfolgreich abgeschlossen hat, musste sie sich auf Jobsuche machen. „Meinen Praktikumsplatz während der schulischen Ausbildung habe ich bei der ersten Apotheke bekommen, in der ich mich vorgestellt habe“, erzählt sie. „Als es nach der Ausbildung um eine Festanstellung als PTA ging, wurde es allerdings schwieriger.“ Bei mehreren Apotheken, darunter auch solche in den umliegenden Krankenhäusern, hat sich die junge PTA beworben. „Mein erstes Vorstellungsgespräch hatte ich an einer Uniklinik, weil ich mir die Arbeit in einer Krankenhausapotheke gut vorstellen konnte“, erinnert sie sich. Das Gespräch verlief zwar positiv, ihr seien sogar Hoffnungen gemacht worden. Doch vier Monate später kam die Absage. Man mache sich Sorgen, ob die Kommunikation wirklich funktionieren würde.

Während dieser Zeit hat Tenhaken in mehreren Apotheken hospitiert. „Das hat auch überall gut geklappt, die Kommunikation war eigentlich kein Problem“, berichtet sie. Eine dieser Apotheke hätte ihr sogar schon eine mündliche Zusage gegeben und versprochen, sich wegen eines Arbeitsvertrages zu melden. Doch danach hörte sie wochenlang nichts mehr. „Ich habe dort noch zwei Mal nachgefragt. Jedes Mal sagte man mir, die Chefin hätte viel zu tun und würde sich melden“, so Tenhaken. „Als ich dann zum dritten Mal angefragt habe, hieß es, sie hätten schon jemanden eingestellt.“

Also musste sie weiter suchen. Bei den meisten Vorstellungsgesprächen sei die Schwerhörigkeit ein Problem gewesen. „Die Inhaber waren damit überfordert und hatten Angst, dass eine schwerhörige PTA nicht die gleiche Arbeit leisten kann wie eine hörende“, berichtet sie. Eine extrem negative Erfahrung habe sie in einer weiteren Krankenhausapotheke machen müssen. Bei diesem Vorstellungsgespräch seien mindestens zehn andere Bewerber gleichzeitig interviewt worden. „Ich hatte eine Frage nicht richtig verstanden, da in größeren Gruppen viele durcheinander reden und ich die Stimmen nicht sofort zuordnen kann, und nachgefragt“, erzählt sie. Statt einfach die Frage zu wiederholen, legte der Personalverantwortliche der PTA vor anderen Bewerbern ans Herz, nochmals darüber nachzudenken, ob der Beruf für sie überhaupt geeignet sei. „Ich kam mir total gedemütigt vor“, sagt sie. „Auch Menschen mit Behinderungen haben eine Seele.“

Als Tenhaken ihre Bewerbung in der Apotheke am Casinowall vorbeibringt, hat die Suche ein Ende. Seit Mitte Juli arbeitet sie als PTA in der Apotheke von Natalie Pflaum. Zwei Tage lang habe Tenhaken zur Probe gearbeitet. Doch schon am ersten Tag sei klar gewesen, dass sie dazugehöre, sagt die Apothekerin. „Ich finde es wichtig, Carina eine Chance zu geben“, betont sie.

Im Vorfeld hat sich die Apothekerin, wie sie zugibt, viele Gedanken gemacht, wie die Zusammenarbeit mit einer schwerhörigen Mitarbeiterin sich im Alltag gestalten ließe. Doch sie hat festgestellt: „Nur die Theorie ist schwierig. In der Praxis ist alles viel leichter, als man sich das vorstellt.“ Es gebe lediglich ein paar Grundsätze zu beachten. „Vieles ist in der Apotheke auf Zuruf erfolgt. Auch ich bin eine Zuruferin“, sagt Pflaum. Das sei für ihre neue PTA eben schwierig zu verstehen. „Aber wir haben uns jetzt schon daran gewöhnt, in ihre Richtung zu sprechen, damit sie uns besser verstehen kann.“

Noch arbeite die junge PTA lediglich im Backoffice und im Labor. „Unsere Apotheke versorgt zwei Altenheime, für die täglich Medikamente verblistert werden“, berichtet die Apothekerin. Es gebe für Tenhaken also genug zu tun. In den nächsten Monaten will Pflaum sie an den Handverkauf und Kundenberatung heranführen. „Leider durfte Carina während ihres Praktikums nicht beraten, das lässt sich aber ändern und ist eine Übungssache“, ist sie überzeugt.

„Ich bin unheimlich dankbar, dass mir die Chance gegeben wurde“, sagt Tenhaken. „Ich gehe jeden Tag mit Freude zu Arbeit. Der Beruf macht mir sehr viel Spaß und der Arbeitsalltag ist sehr abwechslungsreich“. Mit ihrem Beispiel möchte die junge Frau allen Menschen mit Behinderungen Mut machen und zeigen, dass man es schaffen kann, wenn man es wirklich will. „Es kann ein langer und schwerer Weg sein, aber man sollte es auf jeden Fall versuchen“, appelliert sie. „Kämpft für euren Traumberuf!“ Denn mit dem Traumberuf und dem dazugehörigen Spaß sei das Leben viel leichter.

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