Apotheker gegen Stigmatisierung

„Nach Ihnen müssen wir richtig saubermachen“

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Berlin -

Die HIV-Diagnose bedeutet heute kein Todesurteil mehr. Die Zahl der Neuinfektionen hat abgenommen. Trotzdem ist es wichtig, Bescheid darüber zu wissen. Unermüdlich setzen sich Menschen ehrenamtlich dafür ein, den grassierenden Leichtsinn zu stoppen. Einer davon ist Apotheker Michael Mantell, Inhaber der Stifts-Apotheke in Dortmund. Er beklagt besonders die Stigmatisierung der Betroffenen.

„Wir wollen, dass mehr Menschen den Mut haben, einen HIV-Test zu machen, um die Infektionskette zu stoppen“, bringt er es auf den Punkt. „11.400 Menschen in Deutschland wissen nichts von ihrer Infektion.“ Mantell ist im Vorstand der Apothekerkammer Westfalen-Lippe und im ehrenamtlichen Vorstand der Aidshilfe Dortmund.

„Viele Leute fragen mich, wofür wir heutzutage eigentlich noch die Aids-Hilfe brauchen“, sagt er. „HIV ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen.“ Ihr Schmuddelimage hat die Krankheit in den vergangenen Jahrzehnten jedoch nicht abzulegen vermocht. „Der Volksmund sagt: Diabetes bekommt man, HIV holt man sich.“ Damit ist eigentlich schon vieles gesagt. Allein in Dortmund leben rund 800 HIV-Positive.

Ein großes Problem ist die Stigmatisierung der Betroffenen. „Neuere Entwicklungen wie die Nicht-Übertragbarkeit unter wirksamer Therapie sind nur wenigen Menschen bekannt“, sagt Mantell. Dies führt zu teils entwürdigenden Situationen. Mantell hat viele erschütternde Geschichten von Betroffenen erfahren. „Eine HIV-positive Kindergärtnerin wollte am Arbeitsplatz nichts von ihrer Krankheit erzählen. Die Eltern haben es herausbekommen, sie forderten, dass die Kinder nicht mehr von ihr betreut werden dürfen“, erzählt der Apotheker.

Zu wenige Menschen wüssten, dass man mit den modernen HIV-Medikamenten unter der Nachweisgrenze und in keinem Fall ansteckend sei, auch bei Geschlechtsverkehr ohne Kondom. Besonders überraschend sind die Informations- und Wissenslücken bei medizinischem Personal. „Es gibt vor allem im Zahnärztebereich Riesenprobleme. Viele Zahnärzte wollen HIV-Patienten grundsätzlich nicht behandeln. Oder sie bieten ihnen nur Termine am Ende der Praxiszeiten an, sagen ‚Nach Ihnen müssen wir ja richtig sauber machen.‘ Ich frage mich dann immer, ob die sonst nicht sauber machen. Eine perfekte Reinigung erfordert maximal zwei Minuten Einwirkzeit, das Robert-Koch-Institut hat wunderbare Broschüren.“ Die gute Nachricht: Es gibt auch Zahnärzte, bei denen HIV-Patienten willkommen sind. „Aber die würden das niemals auf ihre Homepage schreiben, weil sie Angst davor haben, dass andere Patienten dann ausbleiben.“

Mantell kennt Fälle von HIV-positiven Menschen, denen in der Reha mitgeteilt wurde, dass sie das Schwimmbad nicht benutzen dürfen. Wenn er davon erzählt, spürt man die Mischung aus Entsetzen und Verständnislosigkeit. „Aber leider, die Gesellschaft ist nicht informiert, deshalb erfolgt die Stigmatisierung“, sagt er. Er kann deshalb nachvollziehen, dass viele Menschen sagen, dass sie es lieber gar nicht wissen möchten, ob sie infiziert sind oder nicht.

Er erzählt den Fall einer Patientin, der man im Krankenhaus quasi automatisch ein Einzelzimmer zuwies. Begründung: Man könne anderen Patienten nicht zumuten, mit ihr die selbe Toilette zu benutzen. „Es ist immer wieder unglaublich, welche Unkenntnis es sogar bei medizinischem Personal gibt.“ Viele Patienten berichten ihm, dass die Stimmung im Krankenhaus sich sofort ändere, wenn man bei der Aufnahme erwähne, dass man HIV-positiv sei. „Dann sind viele Mitarbeiter plötzlich sehr zurückhaltend oder gleich ganz weg.“ Und damit dann auch wirklich jeder merkt, dass es sich um „besondere“ Patienten handelt, bekommen sie einen roten Punkt ans Bett oder an die Tür. „Das ist völliger Quatsch“, sagt Mantell. Als er Mitarbeiter des betreffenden Krankenhauses darauf ansprach, änderten sie ihr Verhalten. Es gibt jetzt keine roten Punkte mehr.

Alljährlich findet am 1. Dezember der Welt-Aids-Tag statt. Die aktuelle Botschaft lautet: N=N. Nicht messbar = Nicht übertragbar. HIV ist unter einer wirksamen Behandlung sexuell nicht übertragbar. Auf dieses wissenschaftliche Ergebnis der diesjährigen Internationalen Aids-Konferenz in Amsterdam will die Aidshilfe Dortmund in diesem Dezember besonders hinweisen.

Mantell erklärt: „Mit HIV zu leben ist heute etwas ganz anderes als vor 20 Jahren. Wir hoffen, dass die Verbreitung der Botschaft N=N Menschen ermutigt, sich beraten und gegebenenfalls auch testen zu lassen. Denn nur wer von der Infektion weiß, kann auch von den Vorteilen der Behandlung profitieren.“ Er erläutert: „HIV-Positive haben annähernd dieselbe Lebenserwartung wie Gesunde, sie können jeden Beruf ausüben, gesunde Kinder bekommen, ein normales Leben führen. Je früher eine Infektion erkannt wird, desto besser ist sie behandelbar.“

Mantell fordert null Diskriminierung für Erkrankte, weiß aber gleichzeitig, dass die Gesellschaft von diesem Ziel noch weit entfernt ist. Der Apotheker ist einer von 50 Ehrenamtlichen bei der Aidshilfe Dortmund. Er investiert rund fünf Stunden seiner kargen Freizeit pro Woche, um sich zu engagieren. „Es ist ein Randthema“, sagt er. Aber eines, für das es sich lohnt, zu kämpfen. Weil er viel Dankbarkeit zurückbekommt. „Mehr als in der Politik“, sagt er lächelnd.

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