Nach Jamaika-Aus

Lindner (FDP) kämpft gegen Buhmann-Image

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Berlin -

An Tag 2 nach dem Aus für die Jamaika-Sondierungen geht die Suche nach einem Ausweg aus der politischen Krise weiter. Bundespräsident Frank-Walter Steimmeier bittet Grüne und FDP-Chef Christian Lindner zum Rapport. Da hat die Bild-Zeitung FDP-Chef Christian Lindner zum Buhmann der Nation ausgerufen. Lindner ringt in einem Brief an seine FDP-Mitglieder um die politische Deutungshoheit. Und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble ermahnt die Parteien zur Kompromissbereitschaft.

„Wir tragen gemeinsam Verantwortung für unser Land“, mahnte Schäuble bei der Eröffnung der ersten Bundestagssitzung nach dessen Konstituierung. Es sei klar, dass das Land regiert werden müsse. Wenn das nicht gelinge, „muss das schlüssig erklärt werden“. Um eine Regierung möglich zu machen, brauche es die Bereitschaft der Parteien, „auch vom Wahlprogramm abzurücken“. Schäuble: „Das ist kein Umfallen, das ist keine Profilschwäche." Nur so ließen sich Mehrheiten und Koalitionen bilden. Mit dem Abbruch werde klarer, dass die Mehrheitsbildung schwieriger werde. „Aber Demokratie braucht Mehrheiten", so Schäuble. Der Abbruch der Sondierungen sei eine „Bewährungsprobe, aber es ist keine Staatskrise“, relativierte der erfahrene CDU-Politiker die Bedeutung.

Nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche ist derzeit noch vollkommen offen, wann Deutschland eine neue Regierung bekommt. Möglich wäre sowohl eine Neuwahl im kommenden Jahr als auch eine Minderheitsregierung oder eine große Koalition. Letztere wird allerdings von der SPD abgelehnt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier will dazu in den kommenden Tagen Gespräche mit allen beteiligten Parteien führen.

In seiner zweiten regulären Sitzung beschloss der Bundestag wegen der langwierigen Regierungsbildung zudem, mithilfe eines Hauptausschusses seine Funktionsfähigkeit sicherzustellen. Mit Ausnahme der Linken stimmten die Abgeordneten der im Bundestag vertretenen Parteien dafür, einen solchen Ausschuss mit 47 Mitgliedern zum zweiten Mal nach 2013 einzusetzen. Der Ausschuss übernimmt in der Gesetzgebung die Rolle der ordentlichen Bundestagsausschüsse, die erst nach der Bildung einer neuen Koalition besetzt werden.

Derweil versucht sich FDP-Chef Lindner vom politischen Buhmann-Image reinzuwaschen: Laut ZDF-Politbarometer sind 55 Prozent der Befragten der Meinung, dass die FDP Schuld am Abbruch ist. Und laut Forsa haben 53 Prozent der Bundesbürger kein Verständnis für die Entscheidung der FDP.

In einem Brief an die FDP-Mitglieder begründetet Lindner noch einmal ausführlich den Ausstieg aus den Jamaika-Sondierungen. Es sei „vermutlich der komplizierteste Prozess zur Sondierung einer möglichen Regierungsbildung“ gewesen, den die Bundesrepublik Deutschland je gesehen habe. „Wir haben Stunden, Tage und Wochen miteinander gerungen“, so Lindner. Die Freien Demokraten hätten Kompromissangebote in der Steuer-, der Europa-, der Einwanderungs- und der Bildungspolitik gemacht.

Mit knapp elf Prozent könne man nicht einer ganzen Republik den Kurs vorgeben. Nach vier Wochen habe aber unverändert nur ein Papier mit zahllosen Widersprüchen, offenen Fragen und Zielkonflikten vorgelegen. „Dort, wo es Übereinkünfte gab, sollten sie oft mit viel Geld der Bürger oder Formelkompromissen erkauft werden“, kritisiert Lindner.

„Dieses Experiment einer Vierparteienkoalition ist leider gescheitert. Trotz langer Sondierungsgespräche konnte in wesentlichen Politikfeldern am Ende keine Verständigung erzielt werden“, begründet Lindner. Es habe sich gezeigt, dass die vier Partner keine gemeinsame Idee zur Gestaltung des Landes und keine gemeinsame Vertrauensbasis erreichen konnten: „Was aber am Ende auf dem Verhandlungstisch lag, war im Wesentlichen ein ambitionsloses ‚Weiter so‘ auf dem Kurs der Großen Koalition, gespickt mit zahlreichen Wünschen der Grünen.“

Dann wird Lindner konkreter: In der Finanzpolitik habe es keine Bereitschaft zum Abbau des Solidaritätszuschlages gegeben: „Am Schluss lag mehr oder weniger das Wahlprogramm der Union vor, das den Soli mäßig reduziert und bis in die nächste Legislaturperiode fortgeschrieben hätte.“

Bei der Zuwanderung wäre zwar eine qualifizierte Einwanderung in den Arbeitsmarkt über ein Punktesystem konsensfähig gewesen. „Beim Familiennachzug für subsidiär Schutzbedürftige gab es bis Sonntagabend aber immer noch keine Einigung. Eine Übereinkunft war nicht möglich“, so Lindner. Die CSU sei zudem zu keiner Trendwende in der Bildungspolitik bereit gewesen: „Auch Teile der Grünen, wie etwa Winfried Kretschmann, haben lautstark gegen ihr eigenes Programm und gegen eine Modernisierung des Bildungsföderalismus gewettert“.

In der Energie- und Klimapolitik sei ein Kompromiss an der Kanzlerin Angela Merkel gescheitert: „Die CDU-Vorsitzende schlug einen Kompromiss von sieben Gigawatt vor, den wir als physikalisch kaum realisierbar eingeordnet haben.“

Verantwortlich für das Scheitern macht Lindner den Bruch der Vertraulichkeit der Verhandlungen: Permanent seien wahre oder auch falsche Tatsachenbehauptungen von einzelnen Sondierungsteilnehmern anderer Parteien „durchgestochen“ worden. Permanent seien Teilnehmer des FDP-Sondierungsteams in sogenannten Hintergrundgesprächen bei Journalisten verächtlich gemacht worden. Lindner: „Schließlich mussten wir in Interviews einzelner Sondierungsteilnehmer anderer Parteien nachlesen, dass man uns in eine Ecke mit der Politik Donald Trumps rücken wollte. Unter solchen Umständen gedeiht das zarte Pflänzchen gegenseitigen Vertrauens wohl kaum.“

Die FDP sei ihrer staatspolitischen Verantwortung zu konstruktiven Gespräche über eine Regierungsbildung nachgekommen. „Den Geist des Sondierungspapiers können wir nicht verantworten. Viele der diskutierten Maßnahmen halten wir für schädlich. Wir wären gezwungen, unsere Grundsätze aufzugeben und alles das, wofür wir Jahre gearbeitet haben.“

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