Nachtdienstgedanken

Wenn der Strumpf durch die Klappe kommt

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Berlin -

Was würde ich nur dafür geben, heute mit meinen Freundinnen ins Kino zu gehen. Wir waren ewig nicht mehr zusammen unterwegs. Aber nein, Sarah – für dich heißt es heute: Notdienst schieben. Was könnte es Schöneres geben, als den Abend mit Kunden in Not zu verbringen? Auch Max ist froh, dass er heute Abend nicht allein in der Apotheke ist. Wir ahnen beide nicht, was in dieser Nacht noch passiert.

Kaum habe ich es mir mit meiner Lieblingsfantaschale Max gemütlich gemacht, geht auch schon die Klingel. „Das fängt ja gut an“, raune ich. Also dackle ich zur Notdienstklappe und höre, was mein Gegenüber zu beklagen hat. „Wir brauchen unbedingt ein Blasenpflaster“, lallt mir die junge Frau entgegen und kichert. Ihre Freundin, die genauso betrunken ist, hält ihren Schuh in der Hand und stützt sich ab. Na prima, hoffentlich entleert sich hier niemand vor meiner Klappe, denke ich und hole wortlos die Pflaster aus dem Regal. Nachdem sie ihr Kleingeld zusammengesucht hat, schließe ich die Klappe und sehe mir das Schauspiel von drinnen an. Max kann auch nur mit dem Kopf schütteln. „Siehst du, Sarah, deshalb mag ich keine Rezepturen mit Ethanol“, argumentiert er.

„Weißt du Max, als ich grade die nackten Füße gesehen habe, musste ich wieder an heute Morgen denken. Herr Schneider war heute zum Anmessen der Strümpfe hier.“ Max rümpft die Nase. „Bin ich froh, dass Fantaschalen keine Füße haben“, sagt er angewidert. Ich kann ihn verstehen, manchmal ist das echt kein Spaß. Kein Wunder, dass wir uns im Team immer darüber streiten, wer mit in die Kabine zum Anmessen muss.

„War es so schlimm?“, fragt Max mich kleinlaut. „Frag nicht! Ich weiß nicht, wann er das letzte Mal seine Füße gewaschen hat – und dann waren die auch noch in dicke Wollsocken und Winterstiefel einpackt“, sage ich und verziehe das Gesicht. „Ich musste auch noch bis ganz oben messen und die Luft in der Kabine wurde immer dünner.“ „Ist ja eklig! Hatte er zu allem Übel auch noch Fußpilz?“ Max hält sich die Hand vor den Mund. Jepp, hatte er. Aber das ist ja mittlerweile nichts Besonderes mehr. Zum Glück stehen Handschuhe und Desinfektionsmittel nicht weit entfernt.

Als wir uns grade so richtig schön hochgeschaukelt haben, klingelt es erneut. Ich laufe zur Klappe und bleibe auf dem Weg dorthin entsetzt stehen. „Was ist los?“, fragt Max. Herr Schneider steht vor der Klappe und wedelt mit einem seiner Kompressionsstrümpfe. Ich öffne die Klappe und versuche die Bilder von eben zu vergessen. „Herr Schneider, schön Sie zu sehen“, lächle ich gekünstelt. Eigentlich ist mir aber nach Lachen gar nicht zu Mute. Ich bin hundemüde und angeekelt.

„Frau Sonntag, schauen Sie mal, mein Strumpf ist eben beim Ausziehen gerissen“, sagt er aufgeregt und hält ihn mir durch die Klappe. Instinktiv weiche ich einen Schritt zurück. Bei dem Gedanken, dass dieser Strumpf eben noch an seinen stinkigen Füßen war, wird mir übel. Am liebsten würde ich die Klappe schließen, bevor die Duftwolke mein Riechorgan erreicht. Doch es ist zu spät. „Ohje, das ist ja ärgerlich. Aber wie soll ich Ihnen denn nun helfen? Wir haben die Neuen ja eben erst bestellt.“ „Aber wann kommen die denn? Ich brauche die doch morgen früh“, meint er aufgebracht. Soll ich jetzt schnell ein Paar stricken oder was? Eigentlich müsste er doch Vorrat zu Hause haben, da ihm jedes halbe Jahr ein Paar zusteht. „Sie haben doch sicher noch ein anderes Paar daheim. Die neuen Strümpfe kommen bestimmt Anfang nächster Woche“, beruhige ich Herrn Schneider. „Nein, die haben alle nicht mehr richtig gepasst. Die habe ich letzte Woche weggeschmissen.“ Im Ernst? Das kann doch nicht wahr sein.

Nachdem ich ihm versprochen habe, gleich morgen ein paar Strümpfe in Seriengröße über den Großhandel zu bestellen, damit er zumindest halbwegs gut versorgt ist, lenkt er ein und wünscht mir eine gute Nacht. Das bezweifle ich zwar, erwidere den Wunsch jedoch. Max sitzt im Notdienstzimmer und schüttelt mit dem Kopf. „Noch Fragen?“, sage ich und kuschle mich wieder auf mein Sofa.

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