Medikamenten-Hilfsprojekt

Easy-Apotheke + Kneipe = Obdachlosenhilfe

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Berlin -

Der Winter ist die schlimmste Zeit für Obdachlose. Wer schon einmal bei Minusgraden draußen schlafen musste, kann sich das vielleicht vorstellen. Umso wichtiger ist die medizinische Versorgung für Menschen ohne Dach über dem Kopf – auch weil Ärzte oft keine Option sind. Eine Apotheke und ein Kneipenwirt in Berlin-Reinickendorf ziehen jetzt ein Projekt auf, um vor ihrer Haustür zu helfen.

Die Gegend um den Berliner Franz-Neumann-Platz ist auf den ersten Blick beschaulich: Am Rande der Innenstadt liegt der Schäfersee, nur ein paar hundert Meter hinter der Grenze zum Bezirk Mitte, aber trotzdem gefühlt weit weg vom Trubel der Millionenmetropole. Eingerahmt von grünen Wiesen und Trauerweiden flanieren hier an warmen Tagen die Anwohner, spielen Minigolf oder paddeln auf Booten über den kleinen See. Erst auf den zweiten Blick wird vielen klar: Auch dieser Kiez hat – wie so viele in Berlin – mit argen sozialen Problemen zu kämpfen. Der angrenzende Franz-Neumann-Platz ist bekannt dafür, ein Anlaufpunkt für Obdachlose zu sein, häufig bevölkern ihn Dutzende.

Auch Jessica Behrens-Knubben brauchte diesen zweiten Blick, um das Leid unter der beschaulichen Oberfläche zu sehen. „Ich habe das am Anfang selbst gar nicht so wahrgenommen“, sagt die 35-jährige PKA, die unweit des Platzes in der Easy-Apotheke von Mehmet Hayrula arbeitet. Die Augen geöffnet habe ihr der Kontakt zu Norbert Raeder, Kneipenwirt, Lokalpolitiker und eine Art graue Eminenz der karitativen Arbeit in der Gegend. Der 50-Jährige machte einst eine Ausbildung zum Pharmakanten bei Schering in West-Berlin (heute Bayer), landete dann aber nach mehreren Stationen als Reisebürobesitzer und Diskothekenbetreiber letztendlich im Kastanienwäldchen, einer Kneipe direkt am Franz-Neumann-Platz – alles im Berliner Nordwesten. „Ick bin hier groß jeworden, ick mag‘s hier und ick will hier och bleiben“, sagt er in bestem Berlinerisch.

Eigentlich habe er mal politisch hoch hinaus gewollt, erzählt er. „Aber ich hab irgendwann gemerkt, dass ich auf der lokalen Ebene viel mehr Gutes tun kann. Man muss die Sachen nur anschieben und was machen, statt in irgendwelchen Palavergruppen zu sitzen.“ Also stellt er seit Jahren immer wieder Projekte auf die Beine, um den Obdachlosen auf seinem Kiez unter die Arme zu greifen. Seine Kneipe spielt dabei eine zentrale Rolle, sei es, um unter den Gästen Geld oder Kleider zu sammeln, um damit Wohngemeinschaften für Obdachlose zu finanzieren, oder für die alljährliche Obdachlosen-Weihnachtsfeier.

So wurde das Kastanienwäldchen auch zum Nukleus der Hilfsaktion von Apotheke, Kneipe und den Teen Challenge, einem gemeinnützigen Verein, der Obdachlosen und Suchtkranken hilft. Er betreibt auf dem Franz-Neumann-Platz einen Wagen, an dem ehrenamtlich engagierte an fünft Tagen pro Woche warmes Essen ausgeben.

„Ich hatte schon seit langem überlegt, wie ich mich mehr sozial engagieren kann“, erklärt Behrens-Knubbe ihren Antrieb. „Aber wenn man 40 Stunden die Woche in der Apotheke steht, ist das gar nicht so leicht. Also habe ich überlegt, wie man das mit der Arbeit kombinieren kann.“ Das hat auch für die Apotheke einen angenehmen Nebeneffekt: „Uns gibt es seit 2016 und wir haben ohnehin nach Wegen gesucht, wie wir uns hier auf dem Kiez positiv einbringen können.“ In Zusammenarbeit mit Raeder entwickelte sie die Idee, einen kleinen Verbund ins Leben zu rufen, der die Obdachlosen vor Ort medizinisch unterstützt.

„Ich habe die Situation hier gesehen und mich schon seit langem gefragt, wie ich den Obdachlosen hier medizinische Hilfe zukommen lassen kann“, erzählt Raeder. Für viele von ihnen sei es sehr schwer, überhaupt irgendeine Behandlung zu kommen. „Die trauen sich wegen ihrer Suchtprobleme nicht zum Arzt und wenn sie es versuchen, werden sie oft verscheucht, weil die Praxen nicht wollen, dass die ihnen die Patienten vergraulen.“ Der Zustand vieler Wohnungsloser zeugt davon. „Es gibt hier einige, denen es echt schlecht geht. Man sieht immer öfter Wundprobleme, einer hier hat die Krätze, ein anderer hat so schlimme Läuse, wie ich sie noch nie gesehen habe. Die sind ihm auf der Mütze rumgerannt!“ Oft fehlt es selbst am einfachsten. „Ich hab gerade erst einen gesehen, der ist erkältet und schnäuzt da auf der Straße in eine Bäckertüte, weil er nicht mal Taschentücher hat.“

Zur sozialen Ausgrenzung und den Suchtproblemen kommt noch der Geldmangel. „Die zwei, drei Euro für ein paar Pflaster haben die allermeisten Obdachlosen nicht. Und was dieses Läusezeug kostet, will ich erst gar nicht wissen“, sagt Raeder. „Die Idee hinter unserem Projekt ist deshalb: Wenn die Leute sowieso in die Apotheke kommen, um etwas zu kaufen, können sie auch gleich etwas für die Obdachlosen mit holen.“ Die Kunden der Easy-Apotheke werden nun vor Ort aufgerufen, die Möglichkeit zu nutzen, beim Einkauf etwas Gutes zu tun. Die Ware sammelt die Apotheke dann und lässt sie in regelmäßigen Abständen dem Teen-Challenge-Wagen auf dem Franz-Neumann-Platz zukommen.

Behrens-Knubben will dem nun etwas mehr System geben. Im Moment sitzt sie daran, eine Liste von Bedarfsartikeln und deren Menge auszuarbeiten, darauf stehen Artikel wie Betaisodona, Panthenol, Läusemittel, Hustensaft, Nasenspray, Mullbinden, Kompressen, Pflaster oder Taschentücher. Die Liste soll dann für alle gut sichtbar in der Offizin ausgehängt werden. „Dann wissen die Kunden und wir immer, was noch gebraucht wird. Nicht dass wir am Ende hunderte Nasensprays haben, aber keine Binden“, erklärt sie. Selbst ohne die Liste hat die frohe Kunde aber bereits ihre Runden auf dem Kiez gemacht, nachdem Raeder über Facebook für das Projekt getrommelt hat. Mehrere Kunden hätten die Belegschaft schon auf das Projekt angesprochen und sich beteiligt.

Ein kleiner Beigeschmack könnte manchem dennoch bleiben – schließlich verdient die Apotheke ja an der Hilfsaktion. „Sicherlich verdienen wir auch daran, aber wenn ich zum Bäcker gehe, ein Brötchen kaufe und das einem Obdachlosen gebe, dann ist das doch nicht anders“, sagt Behrens-Knubben. „Wir wollen uns ja nicht bereichern. Sondern es geht doch darum, den Menschen das Helfen zu erleichtern.“

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