Arzneimittelmissbrauch

Bild: Volkssucht aus der Apotheke

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Berlin -

Jeder Apotheker hat es schon einmal erlebt: Ein Kunde wünscht gleich drei Großpackungen an Nasenspray. Wird nachgefragt oder auf die Risiken hingewiesen, kommt eine pampige Antwort. Die Bild-Zeitung hat in den vergangenen Monaten gleich mehrfach auf das Thema aufmerksam gemacht, zuletzt mit einem Apotheker. Mehr als 14.000 Kommentare zu den Artikeln auf Facebook zeigen, wie groß das Interesse ist.

Wer unter einer verstopften Nase leidet, greift gerne zum Spray. Die Wirkstoffe Xylometazolin oder Oxymetazolin sorgen dafür, dass die verstopfte Nasenschleimhaut schnell abschwillt. Das Gefühl, wieder frei atmen zu können, macht durchaus süchtig. So hat es jedenfalls Tatjana Schäfer erlebt. Die Gelsenkirchnerin kam schließlich auf einen Konsum von zwei Flaschen pro Woche.

Ohne ihren Stoff aus der Apotheke sei sie aufgeschmissen, erzählte sie laut Bild einem Team von Sat.1: „Der Zustand, wenn das Nasenspray nicht mehr wirkt, dass die Nase zugeht. Das wandert ins Gehirn, bis oben in die Stirn. Überall! Der ganze Kopf ist zu. Wenn ich aber den ersten Stoß an Nasenspray nehme, ist das wie Frühlingsgefühle. Das ist wie eine Droge.“ Der Versuch eines kalten Entzugs führte zu Atemnot und Schlaflosigkeit.

Nasenspray sei ein faszinierendes Arzneimittel, hat Matthias Philipp von der Apotheke in der Axel-Springer-Passage in Berlin erfahren. „Ich selber neige dazu, mir ab und an mal was reinzuziehen, weil ich das ganz toll finden, wie das funktioniert. Aber ich kenne natürlich die Gefahren“, zitiert Bild den Pharmazeuten. Viel mehr Menschen seien von Nasensprays abhängig als von Tabletten. „Jeder Zehnte, der reinkommt, kauft Nasenspray.“ Pro Tag habe er zehn Kunden, die schon sehr stark an die Einnahme gewöhnt seien. „Die kommen regelmäßig, man kennt die Gesichter.“

Wenn der Verdacht auf Missbrauch vorliege, könne er die Abgabe verweigern. „Aber dann gehen sie halt in die nächste Apotheke. Damit ist dann auch keinem geholfen.“ Man gebe „wirklich jedes Mal“ den Hinweis, dass das Spray nur eine begrenzte Zeit von längstens fünf bis sieben Tagen am Stück angewendet werden solle, sonst werde die Schleimhaut geschädigt. Auch rate er, stattdessen mal ein Salzspray oder ein homöopathisches Spray anzuwenden.

Ein großes Bewusstsein für die mögliche Sucht hat Philipp nicht wahrgenommen: „Peinlich ist den Kunden ihr hoher Nasenspray-Konsum nicht. Bei Nasenspray gibt es keine große Hemmschwelle wie zum Beispiel bei Abführmitteln.“ Doch die Langzeitwirkungen seien unangenehm. „Das Ende vom Lied kann eine sogenannte ‚Stinknase‘ sein. Dabei stirbt das Gewebe (Nasenschleimhaut) ab. Bakterien siedeln sich an und das kann man dann riechen. Als Betroffener und auch von außerhalb.“

„Sechs Jahre nehme ich es bestimmt schon“, berichtet eine Userin bei Facebook. „Und außenstehende Menschen lachen einen aus, wenn man denen das erzählt.“ Eine andere berichtete: „Ich bin dafür schon in die Notfallapotheke gefahren, seitdem habe ich immer einen Vorrat zuhause. Wenn man mal so in die Runde fragt, dann wundert man sich wirklich, wie viele diese Sucht haben. Ich bin schon bestimmt 15 Jahre abhängig. Werde den kalten Entzug mal probieren, aber ich leide schon nach ein paar Stunden.“ Eine andere Facebook-Userin schilderte: „Ich war damals knapp fünf Jahre süchtig und habe innerhalb von zwei Tagen eine Flasche verbraucht. Wenn ich nichts mehr hatte, musste ich sogar zur Notapotheke fahren. Meine Nase wurde letztendlich gelasert und dann kam ich weg von dem Zeug!“

Ein Ausstieg sei möglich, sagt Philipp, brauche aber seine Zeit. Den Betroffenen rät er, lieber auf ein Salzspray umzusteigen. „Das ist vom Effekt her nicht zu vergleichen, hilft aber auf Dauer.“ Das sei vielversprechender als den Stoff von einem Tag auf den anderen gleich ganz abzusetzen. „Wenn man einen Entzug macht oder das reduziert, kriegt sich die Schleimhaut wieder ein.“

Laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) sind in Deutschland schätzungsweise mehr als 1,9 Millionen Menschen arzneimittelabhängig. Hinzu kommt eine unbekannte Anzahl an Menschen, bei denen ein Missbrauch rezeptfreier Arzneimittel vermutet wird. Von einem Medikamentenmissbrauch spricht man, wenn Medikamente ohne eine entsprechende Indikation, in unangemessen hoher Dosierung oder länger als notwendig eingenommen werden. Etwa 10 bis 12 Prozent der OTC-Arzneimittel haben laut DHS ein Missbrauchspotenzial, im Rx-Bereich ist es etwa die Hälfte.

Kunden haben verschiedene Motive, weshalb sie Arzneimittel missbrauchen. Umso wichtiger ist es, die Hintergründe zu erfragen und sie über Risiken und Nebenwirkungen aufzuklären. Häufig können zum Beispiel Depressionen, Perspektivlosigkeit und Todesfälle die Ursachen sein. Eine offensive Beratungspolitik sowie Rat zur Konsultation von Arzt und Beratungsstellen können helfen, den Kunden zu sensibilisieren. Bei begründetem Verdacht auf Missbrauch ist die Abgabe zu verweigern.

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