Interview Daniela Piossek (BVMed)

„Wir sollten weg von Dumpingpreisen“

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Berlin -

Der Hilfsmittelmarkt ist für viele Apotheken nicht mehr besonders attraktiv. Die Verträge der Kassen haben die Erstattungspreise auf ein Minimum gedrückt. Für die Patienten bedeutet das häufig eine schlechtere Versorgungsqualität. Daniela Piossek, Hilfsmittelexpertin beim Bundesverband Medizintechnologie (BVMed), kritisiert im Gespräch mit APOTHEKE ADHOC die Verträge und Dumpingpreise der Kassen.

ADHOC: Was sind die größten Probleme bei Hilfsmittel-Ausschreibungen?
PIOSSEK: Ausschreibungen führen zu Standards – aber die passen nicht immer. Wer davon abweicht, fällt durch das Raster und muss draufzahlen. Das Sparen zeigt sich auch an den Stückzahlen, etwa bei der Inkontinenzversorgung: Früher wurden die Produkte nicht bis zum letzten Tropfen ausgereizt, heute heißt es, das Produkt fasst laut Verzeichnis zwei Liter, also muss es auch dafür reichen.

ADHOC: Welche Auswirkungen gibt es bei den Produkten, die Versicherte erhalten?
PIOSSEK: Für viele Hilfsmittel gelten veraltete Produktstandards. Die Ausschreibungsgewinner können also günstigere Produkte anbieten, die aber nicht mehr den medizinisch-technischen Standards entsprechen. Ein großes Problem sind auch die fehlenden Versorgungsstandards. In den Ausschreibungsunterlagen werden zwar teilweise Qualitätsanforderungen genannt – entscheidend ist dann aber doch der Preis. Ob die Qualität dann eingehalten wird, wird in der Regel von der Kasse nicht überprüft. Es fehlt an Kontrollen. Das alles führt dazu, dass Ausschreibungen, so wie sie jetzt durchgeführt werden, ins Leere laufen. Der Patient wird nicht so versorgt, wie er versorgt werden sollte.

ADHOC: Warum beschweren sich die Versicherten nicht massenhaft bei den Kassen?
PIOSSEK: Der Patient weiß oft nicht, welche Ansprüche er hat und was ihm zusteht. Es gibt zwar Krankenkassen, die Umfragen zur Versorgung unter ihren Versicherten machen – aber die sind darauf angelegt, ein positives Ergebnis zu liefern. Wie soll denn der Patient einschätzen, wie er versorgt wurde, wenn er gar nicht weiß, wie die Versorgung im besten Fall aussehen könnte? Der Arzt muss Verantwortung übernehmen und kontrollieren, ob der Patient richtig versorgt ist. Das ist zwar bereits heute in den Hilfsmittelrichtlinien festgelegt, passiert aber nicht.

ADHOC: Müssen die Kassen nicht sicherstellen, dass der Patient die notwendige Versorgung erhält?
PIOSSEK: Die Ausschreibungen sind oft so formuliert, dass den Patienten nur ein aufzahlungsfreies Produkt in einer Qualität angeboten werden muss. Wollen sie ein anderes, müssen sie aufzahlen. Welches Produkt das ist, entscheidet der Ausschreibungsgewinner – und damit auch darüber, was eine zweckmäßige und medizinisch notwendige Versorgung ist. Da nirgendwo genau definiert ist, was eine „medizinisch notwendige“ Versorgung im jeweiligen konkreten Einzelfall ist, kommt es bei der Auswahl des Produktes immer wieder zu einer Gratwanderung zwischen dem Unterlaufen des Sachleistungsprinzips und der Abgabe eines guten Produkts, dass der Patient aus der Vergangenheit einfach gewohnt ist. Kontrolliert wird das System derzeit allein durch die Krankenkassen beziehungsweise ihren Medizinischen Dienst. Das ist aber nicht ausreichend, denn die Kassen setzen sich anscheinend nicht immer für die Patienten ein. Würden sie das tun, würden sie teilweise selbst ihre Ausschreibungen unterlaufen und zugeben müssen, dass zu diesen Vertragspreisen keine medizinisch notwendige Versorgung möglich ist.

ADHOC: Welche Bereiche sind besonders betroffen?
PIOSSEK: Probleme sehe ich in allen Ausschreibungsbereichen. Wenn für die Dekubitus-Versorgung nur noch eine Versorgungspauschale von etwa 100 Euro gezahlt wird, dann deckt das kaum einen Hausbesuch ab. Für Rollatoren liegt die Versorgungspauschale inzwischen auch schon unter 40 Euro, und bei den Rollstühlen gibt es auch Lose mit extrem niedrigen Ausschreibungspreisen. Besonders drastisch ist es, wenn die DAK teilweise nur noch zwölf Euro im Monat für die Inkontinenzversorgung ihrer Versicherten zahlt. Das ist nicht machbar.

ADHOC: DAK-Chef Professor Dr Herbert Rebscher hatte zuletzt erklärt, ihm seien durch das veraltete GKV-Hilfsmittelverzeichnis die Hände gebunden.
PIOSSEK: Er hat zwar recht, wenn er darauf hinweist, dass die Kassen keine höheren Standards anbieten dürfen als im Hilfsmittelverzeichnis festgelegt. Aber er hat die Wahl zwischen einer Ausschreibung und Bekanntmachungsverträgen, denen verschiedene Leistungserbringer beitreten könnten. Ich meine, wir sollten weg von Dumpingpreisen und hin zu einem echten Qualitätswettbewerb.

ADHOC: Warum gibt es solche Dumpingpreise überhaupt – man sollte doch erwarten, Hersteller steigen aus, wenn es für sie ins Minus geht.
PIOSSEK: Am Anfang haben sich viele Unternehmen tatsächlich nicht an den Ausschreibungen beteiligt – aber dann sind ihnen hunderttausende Patienten entgangen. Man kam zu dem Schluss, dass man nicht nicht mitmachen kann. In Apotheken stellt sich die gleiche Frage. Die Leistungserbringer setzen nun auf eine Mischkalkulation: Ausschreibungen bieten ihnen die Chance, Zugang zu den – meist multimorbiden – Patienten zu bekommen, denen sie gegen Aufzahlung qualitativ bessere Produkte oder sogar Artikel aus anderen Bereichen verkaufen können. Mit der Aussicht auf ein solches Cross-Selling bieten die Leistungserbringer daher auch Preise weit unter Einkaufspreis.

ADHOC: Wie hat sich die Ausschreibungspraxis entwickelt?
PIOSSEK: Zunächst gab es eine Testausschreibungen in den „großen“ Bereichen wie die Inkontinenz. Inzwischen greift die Ausschreibung auch immer mehr in den Reha- und Medizintechnikbereich über. So werden unter anderem CPAP-Geräte, Rollstühle und Badewannenlifter ausgeschrieben. Eine Kasse schaut auf die andere und sieht, wo man noch einsparen kann – das ist ein Schneeballeffekt. Das Ganze wird durch die Politik gefördert: Denn bei Mehrausgaben müssen die Kassen Zusatzbeiträge erheben. Das führt zu einem enormen Druck.

ADHOC: Was muss sich ändern?
PIOSSEK: Wir werden die Ausschreibungen nicht wegbekommen, aber wir können an verschiedenen Stellschrauben drehen und die Folgen kontrollieren. Der Preis sollte zu maximal 30 Prozent in die Entscheidung über Anbieter einfließen, statt wie bislang einziges Kriterium zu sein. Stattdessen sollten andere Punkte eine Rolle spielen, etwa die Versorgungsqualität, die Beratung, das verfügbare Personal, die Logistik oder die Frage, wie lange die Firma schon am Markt ist.

ADHOC: Welche Punkte sollten darüber hinaus angegangen werden?
PIOSSEK: Es ist nötig, die medizinische Notwendigkeit zu definieren, ähnlich wie das bei Hörgeräten und Sehhilfen bereits geschehen ist. Das Hilfsmittelverzeichnis muss komplett umstrukturiert werden – weg von den derzeitigen Produkten und hin zu solchen, die die technischen Anforderungen erfüllen. Es müsste ein verpflichtendes Kontrollsystem geben. Alle Beteiligten müssten ihre Funktion erfüllen und prüfen, ob die Verträge eingehalten werden. Der Patient müsste verpflichtend über die Vertragsinhalte informiert sein und wissen, was ihm zusteht. Die Krankenkassen etwa könnten eine Patienteninformation über die Vertragsinhalte herausgeben. Patienten sollten zudem die Möglichkeit bekommen, bei Vorlage eines Berechtigten Interesses auch von einem anderen Leistungserbringer als dem Ausschreibungsgewinner versorgt zu werden. Die Kriterien hierfür gilt es bundesweit einheitlich zu definieren.

ADHOC: Was können Leistungserbringer tun?
PIOSSEK: Jeder Spezialist im System sollte auf das Problem aufmerksam machen. Nur, wenn alle sich äußern, kann etwas bewegt werden. Die Betroffenen sind meist multimorbide Patienten. Sie haben keine Lobby und oft nicht mehr die Kraft, zu handeln. Viele trauen sich auch nicht, etwas zu sagen, aus Angst, die Kasse könnte ihnen Leistungen kürzen. Durch die große Öffentlichkeit, die das Thema in letzter Zeit erfahren hat, findet nun aber zumindest eine Expertenanhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestags statt.

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