Überraschung beim Arzt, Hilfe in der Apotheke

Weiblich, 60, HIV-positiv

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Berlin -

Die Angst vor Aids ist in unserer Gesellschaft beinahe verschwunden. Ein fataler Irrtum. Immer mehr Menschen, die überhaupt nicht damit rechnen, erfahren, dass sie HIV-positiv sind. Eine Gruppe sind dabei Frauen über 50. In der BerlinApotheke Friedrichshain finden sie kompetente Hilfe.

„HIV im Alter ist seit rund drei Jahren ein Thema“, sagt Filialleiter Nico Reinold. Damals zeigte sich erstmals in den Statistiken, dass es auch bei älteren Menschen in größerem Umfang Neuinfektionen gibt. In Friedrichshain sind vier Patientinnen im Rentenalter Stammkundinnen. Vier Menschen, die niemals von sich aus auf die Idee gekommen wären, einen HIV-Test zu machen. Bis ein aufmerksamer Arzt sie informierte. Reinold kennt die Unachtsamkeit von Ärzten, was HIV-Infektionen bei Frauen im fortgeschrittenen Alter betrifft, aus eigener Erfahrung: „Ich war mit meiner Großmutter im Krankenhaus. Kurz vor der OP kam ein Arzt und beantwortete die Fragen auf dem Gesundheitsbogen gleich selbst, sagte ‚Hepatitis? Nein. HIV? Nein.'“ Reinold fragte den Arzt: „Woher wollen Sie das eigentlich wissen?“

„Die Patientinnen haben jahrelang gekränkelt“, erzählt Reinold. Sie waren weder schwer krank noch fühlten sie sich fit. Die Symptome hakten sie als etwas ab, das erfahrungsgemäß wieder verschwinden würde. Aber sie verschwanden nicht. Durchfall, Gewichtsverlust, andauernde Müdigkeit, Pilzerkrankungen wie etwa Mund- oder Vaginalpilz und im schlimmsten Fall eine Lungenentzündung gehören zu den Beschwerden, bei denen ein guter Allgemeinarzt aufmerken sollte. „Meistens fällt die HIV-Infektion viel zu spät auf“, sagt Reinold, „im Idealfall haben die Patientinnen eine Überweisung zu einem Infektiologen erhalten.“

Die betroffenen Frauen waren alle komplett geschockt. Wann und von wem sie infiziert wurden, können sie sich meist nicht erklären. Vielen ist das Thema auch unangenehm und peinlich. Möglicherweise war der Ehemann untreu, möglicherweise verschließt man selbst die Augen davor, dass es einen oder auch mehrere Seitensprünge in einer längeren Beziehung gab. Vielleicht ohne Kondom, für Safer Sex interessieren sich laut statistischen Zahlen eher junge Menschen.

Fest steht: Unter älteren Heterosexuellen nehmen die HIV-Neudiagnosen zu. Jeder Sechste, der erfährt, dass er sich infiziert hat, ist laut aktuellen Zahlen über 50 Jahre alt. Und jeder Zweite, bei dem HIV festgestellt wird, trägt das Virus schon seit vielen Jahren in sich. „Das kann man anhand der Viruslast feststellen“, sagt Reinold. Auch jüngere HIV-Patienten betreut die Apotheke, die seit 1996 eine von heute 15 Schwerpunktapotheken in Berlin ist. Drei Arztpraxen, die ebenfalls auf HIV spezialisiert sind, befinden sich im Einzugsgebiet. „Aus sozialer Sicht gibt es bei uns alles – von obdachlos bis sehr wohlhabend.“ Die jüngste HIV-Patientin, die sich während der Geburt infizierte, studiert heute. Der älteste HIV-Patient ist 78 Jahre alt. Eine der jüngeren Patientinnen in der Apotheke in Friedrichshain hat sich 1986 infiziert und begann im Jahr 2009 mit der Therapie.

Auch heterosexuelle Männer erwischt die Diagnose HIV-positiv oft kalt. Der Apotheker erzählt die Geschichte von zwei deutschen Kollegen, die monatelang beruflich in Russland waren. Jetzt kommt nicht die Klischee-Geschichte von Reisenden, die bei Prostituierten einkehrten. „Der eine bekam Zahnschmerzen und einen Weisheitszahn gezogen. Der andere brauchte eine Krone.“ Die ließ er sich, um Geld zu sparen, vor Ort machen. Vermutlich waren die hygienischen Verhältnisse unzureichend. Als beide wieder in Berlin waren, stellte sich nach einiger Zeit heraus, dass sie sich mit dem HIV-Virus infiziert hatten.

Bei älteren Patientinnen gehen Ärzte offensichtlich ebenso wie die Frauen davon aus, dass sie nicht zu einer Risikogruppe gehören. Bei den Ärzten müsse deshalb, so findet Reinold, ebenso ein Umdenken stattfinden. Osteoporose ist zum Beispiel ein Stichwort. Die gehört für viele eben zu den Problemen des Alterns bei Frauen, nur rund 25 Prozent der Erkrankten sind Männer. Dabei kann Osteoporose, wenn sie schnell fortschreitet, durchaus mit einer HIV-Infektion zusammenhängen, denn diese kann die Krankheit begünstigen und beschleunigen.

Was HIV betrifft, wiegen sich viele Menschen in falscher Sicherheit: „Es ist längst nicht mehr so, dass HIV immer nur die anderen, die Spritzer, Transsexuellen und Homosexuellen haben. Die Angst der 80er-Jahre, in denen Aids oft tatsächlich ein Todesurteil war, ist allerdings verschwunden.“ Nach den jüngsten Schätzungen leben in Deutschland rund 88.400 Menschen mit einer HIV-Infektion. Jedes Jahr werden rund 3100 HIV-Neuinfektionen registriert.

Die gute Nachricht: Ebenso wie bei jüngeren Patienten ist HIV heute kein Todesurteil mehr. „Ältere Patienten bekommen die selbe Therapie wie jüngere“, so Reinold, „so lange bei den älteren Patientinnen keine schweren Grunderkrankungen dazukommen, ist es kein Problem.“ Nicht alle Betroffenen nehmen es nach dem ersten Schock so locker wie eine Patientin Reinolds, die sagte: „Na gut, dann habe ich neben Osteoporose eben auch noch HIV.“

Am 1. Dezember ist Welt-Aidstag. Das möchten die Experten der BerlinApotheke Friedrichshain nutzen, verstärkt auf die Gefahren hinzuweisen. Die Schwerpunktwoche startet am 1. Dezember und läuft in den darauffolgenden Tagen weiter. Um die Hemmschwelle für HIV-Tests zu senken, werden auch die Preise gesenkt: „Der Selbsttest kostet dann statt 23 nur 20 Euro“, sagt Reinold. Wer sich beraten lassen möchte, findet in dieser Berliner Apotheke auf HIV spezialisiertes Fachpersonal vor. „Wir bilden uns laufend fort, fahren zu deutschlandweiten und internationalen HIV-Kongressen, machen interne Schulungen und sind im Danebi-Netzwerk“, erklärt Reinold.

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