Arzneimittelmissbrauch

Apotheker in der Pflicht

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Berlin -

Laut Suchtexperten sind in Deutschland bis zu 1,9 Millionen Menschen zwischen 18 und 59 Jahren medikamentenabhängig, der größte Teil von Benzodiazepinen, Zopiclon oder Zolpidem. Apotheker stehen dabei in einer besonderen Verpflichtung, findet Heike Richter: „Ich denke, es ist unsere Pflicht, über die korrekte Anwendung zu informieren“, sagt die angestellte Apothekerin aus Roßdorf bei Darmstadt. Gemeinsam mit der Landesapothekerkammer, zwei regionalen Sucht-Rehakliniken, der Caritas und der Diakonie klärt sie auf.

Vor rund einem Jahr lud Richter mit dem Pharmazeutischen Qualitätszirkel Südhessen – ein Zusammenschluss von Angestellten – die Diakonie und Caritas ein, um zu erfahren, wie Suchtberatung funktioniert. Ein Jahr lang entwickelten die Pharmazeuten und Suchtexperten dann einen Flyer, der auf die Nebenwirkungen unkontrollierter Medikamenteneinnahme hinweist, sowie auf fachliche Hilfe. „Der Flyer enthält Adressen und den Hinweis, dass es anonyme Sprechstunden gibt“, sagt Richter.

Beratende Gespräche in der Apotheke könnten bereits erste Denkanstöße geben, sagt Richter. Das sei wichtig, denn im Apothekenalltag komme das Problem durchaus vor. Sie selbst schaue achtsam darauf, was ihre Kunden an Medikamenten erhielten. Manchmal komme das Gefühl auf, eher Hilfe als ein Medikament anbieten zu wollen. In solchen Fällen könne man zwar abraten, aber keine konkrete Hilfestellung geben, sagt sie.

„In schweren Fällen ist die Kooperation mit Suchtberatungsstellen und Ärzten sinnvoll“, so Richter. Denn im Apothekenalltag fehle die Zeit, Betroffenen wirklich zu helfen. „Wir werden ja immer noch nicht für Beratung bezahlt, leider ist unser Verdienst immer an den Verkauf gebunden.“ Neben der Zeit fehle auch ein geschützter Raum, etwa ein Beratungsraum. Mit dem Flyer könne sie jetzt unkompliziert einen Leitfaden für weitere Hilfe anbieten.

Die offizielle Zahl von bis zu 1,9 Millionen Betroffenen hält Richter für die Spitze des Eisbergs: „Das sind die, die die Arzneimittel über Kassenrezepte bekommen.“ Privatrezepte würden nicht erfasst, ebenso wenig OTC-Präparate wie das Schlafmittel Hoggar Night (Doxylamin) von Stada. „Jeden Tag wird es im Vorabendprogramm beworben,“ sagt Richter. Das Präparat sei für eine kurzfristige Anwendung gedacht – etwa für Frauen in den Wechseljahren oder bei starker Trauer. „Aber manche Patienten nehmen die Mittel über Jahrzehnte hinweg.“

40 Prozent der Rx-Medikamente – rund 800.000 Tagesdosierungen – werden Experten zufolge nicht wegen akut medizinischer Probleme, sondern langfristig zur „Suchtunterhaltung“ eingenommen. Auch Eltern fragten mitunter nach Beruhigungsmitteln für ihr Grundschulkind, dass wegen einer nahenden Mathearbeit aufgeregt sei. Besonders gefährdet sind Experten zufolge ältere Menschen. Rund zwei Drittel der Betroffenen seien Frauen über 40.

Ein besonders hohes Risikopotenzial gebe es bei Beruhigungs- und Schlafmitteln vom Typ der Benzodiazepine, etwa Diazepam oder Oxazepam. Jeder sechste Erwachsene zwischen 18 und 59 Jahren nehme mindestens einmal pro Woche psychoaktive Mittel ein, 80 Prozent Schlaf- und Beruhigungsmittel. Anfangs wirkten diese meist sehr gut, sagt Richter. Deswegen würden sie gern und viel verschrieben. Nach wenigen Wochen setze aber Gewöhnung ein, was beim Absetzen zu Entzugserscheinungen wie Unruhe, Schlafstörungen und Angstzuständen führe.

75 Prozent der konsumierten Schmerzmittel würden ohne Rezept verkauft. Laut Richter bergen auch sie ein hohes Sucht-Risiko. Sehr häufig gebe es außerdem Abhängigkeiten von Nasentropfen. Weniger eine Sucht als einen Missbrauch gebe es bei Laxantien. Auch dieser könne aber gefährlich werden und etwa Elektrolytstörungen hervorrufen.

Richters Erfahrung zufolge sind sich viele Verbraucher nicht bewusst über die Risiken von solchen Präparaten, weil sie den Beipackzettel nicht lesen. Vereinzelt gebe es aber auch Patienten, die um Hilfe bitten würden – etwa Mütter, die sich erkundigten, wie man mit dem häufigen Kopfschmerz der Tochter umgehen könne, ohne eine Medikamentensucht zu riskieren.

Auch bei der ABDA hat man das Problem erkannt. Beim Deutschen Apothekertag (DAT) in München beschlossen die Delegierten im September einstimmig, verstärkt die Betreuung Benzodiazepin-abhängiger Patienten durch Apotheker zu fördern. So solle es entsprechende Schulungen für Apotheker geben, im Fach Klinische Pharmazie solle eine entsprechende Vorlesung integriert werden. Auch wolle man mit den Kostenträgern über die Honorierung der Pharmazeutischen Beratung verhandeln. Für die Apotheker in Südhessen will die Kammer bereits im kommenden Jahr eine Fortbildung zum Thema anbieten.

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