Kommentar

Selbstbetrug am HV-Tisch

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Berlin -

Jede Apotheke kennt das: Der treue Stammkunde kommt am Freitagnachmittag und benötigt sein „Herzmittel“. Daneben die Teenagerin, der die Pille ausgegangen ist. Beide kommen ohne Rezept und der Arzt ist schon im Wochenende. Was tun? Die Kunden wegschicken zum womöglich weit entfernten ärztlichen Notdienst oder ein Auge zudrücken und das Rezept nachliefern lassen. Es gibt nur eine richtige Antwort.

Wie eigentlich alles in der Apotheke, sind auch die verschiedenen Arzneimittelklassen streng reguliert. Das findet schon gestalterisch in der Offizin Ausdruck: Bei der Freiwahl darf der Kunde selbst ins Regal greifen, zwischen ihm und seinen liebsten OTC-Produkten stehen jedoch HV-Tisch und Fachpersonal. Und alles, was der Doktor verschrieben hat, darf der Kunde nicht einmal sehen, bis er es bekommt. Und um es zu bekommen, benötigt der Kunde ein Rezept.

Diese Ordnung hat ihren Sinn, und die Apotheken profitieren letztlich auch davon. Sie repräsentiert das, was von Gesundheitsökonomen gerne als Privileg bezeichnet wird, was in Wahrheit aber das Ergebnis eines regulatorischen Prozesses unter pharmazeutischen Gesichtspunkten ist.

Hat also der Patient aus noch so nachvollziehbaren Gründen kein Rezept, darf er das Arzneimittel nicht erhalten. Der Gesetzgeber sieht Ausnahmen nur für Akutfälle vor. Und das ist die Krux: Was unterscheidet einen medizinischen Notfall von einer Situation, in der die Anwendung des Arzneimittels „keinen Aufschub erlaubt“, wie es das Gesetz verlangt? Apotheker sind auch in diesem Bereich quasi gezwungen, sich in rechtlichen Graubereichen zu bewegen, zwischen Rezeptpflicht und unterlassener Hilfeleistung.

Aber die Wahrheit ist auch, dass die meisten Fälle sehr eindeutig gelagert sind: Die junge Frau muss die Pille nicht sofort bekommen. Selbst wenn dadurch der Abstand zur nächsten Einnahme zu groß für eine sichere Verhütung wird, es gibt bekanntermaßen andere Methoden. Streng betrachtet dürfte in den wenigsten Fällen die Anwendung des noch nicht verordneten Arzneimittels „keinen Aufschub“ mehr erlauben.

Und dennoch ist die Rx-Abgabe ohne Rezept in einigen Apotheken anscheinend an der Tagesordnung – und wird in Extremfällen sogar als Wettbewerbsinstrument eingesetzt. Der Bundesgerichtshof (BGH) musste erneut klarstellen, dass es so nicht geht, und dass Verstöße gegen die Rezeptpflicht nie eine Bagatelle sein können.

Apotheken tun sich wahrscheinlich leichter damit, diese Vorgabe zu befolgen. Denn sonst verlieren sie gegenüber ihren Kunden irgendwann jeden argumentativen Halt. Was sagt man dem Patienten, der seinen Blutdrucksenker beim letzten Mal einfach so vorab bekommen hat, wenn er beim nächsten Mal ein (noch) kritischeres Arzneimittel ohne Rezept verlangt? Darf er die BtM-Pflaster für seine Mutter gleich mitnehmen?

Pharmazeutischen Sachverstand anzuwenden ist das eine, aber der Weg zum Diagnosestellen ist dann nicht mehr weit. Apotheker, die sich zutrauen, hier immer überzeugend bleiben zu können, werden auch weiterhin eigenes Augenmaß anwenden. Aber sie müssen wissen, dass sie sich damit auch erpressbar machen. Und dass sie gegen das Gesetz verstoßen.

Die gesetzgeberische Lösung des Dilemmas wäre übrigens, dass die Apotheker bei Dauerverordnungen Folgerezepte ausstellen dürften. Eine schnellere Lösung für die Praxis wäre eine bessere Vernetzung mit den umliegenden Ärzten. Wenn von den Hauptverordnern eine Handynummer für Akutfälle in der Apotheke liegt, gibt es keine rechtlichen Probleme – und der Patient fühlt sich am Ende sogar bestens betreut.

Nur einen Blister herauszugeben und den Rest der Packung als Pfand zu behalten, mag zur Kundenerziehung ein probates Mittel sein. Mit Blick auf die Rezeptpflicht ist es aber nichts als Selbstbetrug. Die Apotheker achten auf der anderen Seite vollkommen zurecht darauf, dass die Apothekenpflicht beachtet wird. Sie sollten es an der Grenze zur Rezeptpflicht ebenfalls tun – zu ihrem eigenen Wohl.

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